Das Aufeinandertreffen mit Chelsea ist das achte K.o.-Duell in der BVB-Vereinsgeschichte mit einem Klub aus England. Viermal schied Borussia Dortmund bisher aus, dreimal – 1966 gegen West Ham, 1997 gegen ManUnited und 2016 gegen Tottenham – erreichte Schwarzgelb die nächste Runde. Die spektakulärsten Duelle gab es am 9. und 23. April 1997. Wir blicken zurück.

Mit 1:0 und 3:1 gegen AJ Auxerre hatte Borussia Dortmund im Frühjahr 1997 die Vorschlussrunde in der UEFA Champions League gelöst, obwohl sich die personellen Probleme wie ein Roter Faden durch die Saison zogen. So auch vor dem Halbfinal-Hinspiel gegen Manchester United, als Trainer Ottmar Hitzfeld neben Matthias Sammer (Gelbsperre), Jürgen Kohler und Julio César auch noch seine Top-Angreifer Karl-Heinz Riedle und Stéphane Chapuisat ersetzen musste. Mehrere Stunden verbrachte der Trainer vor dem heimischen Fernseher und fütterte den Videorekorder mit VHS-Kassetten, die Aufzeichnungen von Spielen des Kontrahenten zeigten. Heutzutage sezieren Analysten den Gegner bis in die letzte Faser. Vor gut 25 Jahren war das noch Chefsache, und die Hilfsmittel waren eher primitiver Natur. Und dann war da noch ein „Spion“ (Gerd Löwel), den Hitzfeld nach Manchester geschickt hatte, um Erkundigungen einzuziehen.

Noch mehr als mit den (vielen) Stärken und den (wenigen) Schwächen bei Manchester United, wo ein gewisser David Beckham als „Entdeckung der Saison“ gepriesen wurde, musste sich Hitzfeld mit der personellen Situation im eigenen Lager auseinandersetzen. Wegen eines Bänderrisses in der Schulter galt am Vorabend des Hinspiels auch noch Heiko Herrlichs Einsatz als unmöglich, doch er stellte sich dann doch zur Verfügung, da ja schon Chapuisat und Riedle fehlten. Hitzfeld beorderte Allrounder René Tretschok an dessen Seite.

„Es war gespenstig ruhig. Vor einem Bundesligaspiel wurde immer noch der eine oder andere Spaß gemacht. Diesmal war es anders. Man merkte, es geht um alles“, erinnert sich Tretschok an die Minuten vor dem Anpfiff. „Jeder Spieler – egal, was er schon erlebt hat – war voll fokussiert.“

Es ist ein Kampfspiel. Es geht mit 0:0 in die Schlussviertelstunde, auch dank Martin Kree, der nach einem Beckham-Schuss mit einer akrobatischen Aktion einen Gegentreffer verhindert hat (67.). Das englische Starensemble bleibt in dieser von taktischen Winkelzügen geprägten Partie weit unter seinen Möglichkeiten, als Paulo Sousa Manchesters Eric Cantona tief in der Hälfte der Gäste den Ball abluchst und einen Gegenangriff einleitet. Sousa will das Leder gerade kontrollieren, als Balldieb Tretschok zuschlägt. Der Klau erfüllt den Tatbestand der Majestätsbeleidigung – und wird Bruchteile später zum Clou: Noch während Sousa genervt abdreht, legt sich Tretschok die Kugel mit links vor, einmal, zweimal – 22, 23 Meter sind es noch bis zum Ziel – und nagelt sie mit links auf den Kasten. Ersatzkeeper Raimond van der Gouw reagiert viel zu spät und lässt den nicht allzu platziert getretenen Ball passieren. Im nächsten Moment bricht es aus René Tretschok heraus. „Es war eine Willensleistung“, sagt er später. Unmittelbar nach dem Treffer reißt er sich das Trikot vom Leib. Er ist der Held, zumindest an diesem einen Abend. Und Paulo Sousa ist der erste Gratulant.

Im Rückspiel schrieb der BVB Geschichte – und Jürgen Kohler die Geschichte einer Abwehrschlacht, die das legendäre Old Trafford noch nie erlebt hatte. Borussia qualifizierte sich mit einem 1:0-Sieg erstmals für ein Finale der Champions League. Und wieder einmal war es Lars Ricken vorbehalten, das entscheidende Tor zu erzielen. Der 20-Jährige gab United-Schlussmann Peter Schmeichel nach Vorlage von Andreas Möller bereits in der achten Minute mit einem platzierten Linksschuss das Nachsehen. Mit diesem Treffer begann das Powerplay des Englischen Meisters, ein wütender Sturmlauf: Angriff auf Angriff rollte auf das Dortmunder Tor. Aber auf der anderen Seite gab es einen Stefan Klos, einen Wolfgang Feiersinger, einen Martin Kree, einen Jörg Heinrich, der nach Stefan Reuters Auswechslung erneut die rechte Abwehrseite besetzen musste – und es gab einen Jürgen Kohler, der in diesem Hexenkessel das Spiel seines Lebens machte.

Als die Mannschaft am 22. April 1997 nach England fliegt, fehlt Jürgen Kohler. Offiziell wegen eines Magen-Darm-Infekts. Doch tatsächlich ist er bei seiner Frau Silke in der Klinik. „An dem Tag haben wir unser Kind verloren“, verrät der heute 57-Jährige. Eine emotionale Ausnahmesituation. „Wenn meine Frau da nicht gesagt hätte: Flieg da hin und spiel’, wäre ich niemals in Manchester mit dabei gewesen.“

Kohler reist am 23. April nach – und steht in einer der legendärsten Europapokal-Schlachten auf dem Rasen. Borussia tritt mit einem hauchdünnen 1:0-Vorsprung zum Rückspiel im Old Trafford an. ManUnited bietet das Who-is-Who des europäischen Offensivfußballs auf: Beckham, Butt, Cole, Solskjaer – und Cantona. Der Franzose kann das Spiel praktisch alleine entscheiden, doch Kohler und Torhüter Stefan Klos bilden an diesem Abend ein unüberwindbares Bollwerk. „Das Trikot mit der Nummer 15 leuchtete wie eine rote Ampel im Straßenverkehr“, schreibt die Zeitung Die Welt. „Ohne Kohler, glaube ich, hätten wir hier nicht bestehen können“, erklärt Ottmar Hitzfeld nach dem Spiel, das Borussia Dortmund sogar mit 1:0 gewinnt. Weil Jürgen Kohler drei Mal auf oder knapp vor der eigenen Torlinie rettet. „Das war pures Glück. Den macht Cantona eigentlich im Tiefschlaf, aber in dem Moment schießt er genau dahin, wo ich meine Fuß hin hebe“, sagt der Held des Abends zu jener Szene, als er auf dem Hosenboden sitzend irgendwie noch sein Bein ausstreckt und den Ball auf seinem Weg zu einem eigentlich sicheren Treffer blockiert.

An diesem Abend erheben ihn die BVB-Fans in den Stand eines „Fußball-Gotts“, während die ManUnited-Anhänger Pläne schmieden, das Flugzeug mit Kohler auf dem Weg zurück nach Dortmund zu stoppen. Der dürfe nie mehr die Insel verlassen, solle stattdessen einen Vertrag bei den Red Devils unterschreiben.

Jürgen Kohler ist ein Vierteljahrhundert später immer noch im Abwehr-Modus. „Fußball-Gott. Das ist schon ’ne Hausnummer“, sagt er: „Da waren ja noch ein paar andere dabei, die sich genauso reingehauen haben wie ich oder die die entscheidenden Tore geschossen haben.“ Borussia Dortmunds größter Erfolg der Vereinsgeschichte, der Champions-League-Sieg 1997, war der Erfolg der gesamten Mannschaft und ihres Trainers Ottmar Hitzfeld, „nicht eines Einzelnen“, betont Kohler: „Ich hab’ da halt in Manchester drei Mal richtig gestanden; es hat da alles gepasst.“

Die gesamte Mannschaft hatte sich mit Herz und Leidenschaft gegen die groß aufspielenden Gastgeber gewehrt und sich am Ende für einen fantastischen Kampf belohnt. „Das ist Wahnsinn, einfach unglaublich. Ganz Deutschland kann stolz auf uns sein“, sprudelte es aus Andreas Möller heraus.

Die Zuschauer im Old Trafford verabschiedeten den Deutschen Meister mit stehenden Ovationen. Und auf dem Flughafen Münster/Osnabrück feierten nach der Landung tief in der Nacht weit über tausend Fans die Helden von Manchester. „Wir haben die Erwartungen deutlich übertroffen. Ein Riesen-Kompliment vor allem an jene Spieler, die nicht immer zum Kader gehören, die im Laufe dieser Runde aber über sich hinausgewachsen sind. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft“, betonte ein strahlender Ottmar Hitzfeld. Borussia Dortmund stand im Endspiel der Königsklasse.
Boris Rupert