Die DFB-Autorennationalmannschaft ist die Nationalelf der Schriftsteller. Im Jahr 2010 wurde sie Europameister - mit einem Finalsieg im Stadion Rote Erde. In dieser Saison begleitet sie alle Heimspiele des BVB in literarischer Form. Heute: Klaus Döring über das Spiel Borussia Dortmund gegen Eintracht Frankfurt (25.04.2015).

(Die Kolumne spiegelt nur die Meinung des Autors, aber nicht zwangsläufig die des BVB wider.)

Beam me up, Kloppo!

Bumm. Ein Hammerschlag auf Stahl. Die erste rote Kontrolllampe erlischt.
Bumm. Der zweite Stahlschlag. Der Countdown zählt herunter. Bumm. Bumm. Bumm.

Ein rotes Licht nach dem andern geht aus. Dann nur noch Schwärze im Raum. Das Getöse setzt ein. Ein Vibrieren. Ein Rumoren wie im Stadion. Pures Adrenalin jagt durch meine Adern. Jede Faser gespannt. Die Sirene heult auf: hinter mir, von hinten wird der Schuss kommen! Das erste Geschoss jagt auf mich zu. Ich weiche aus, offene Stellung, „offene Stellung samt Schulterblick, das musst du bringen“, hat er gesagt! Blau leuchtet auf. BLAU! Da darfst Du nie hin schießen. Blau? Blau! Blau! Blau! Blau! Hat er mit eingebläut. Das ist die No-go-Farbe. Die Farbe des Erzfeindes. Grün leuchtet auf. Bei Grün darf ich. Auf Grün muss ich. Ich schieße. Ein sauberer Pass. Treffer. Treffer! Da schreit die Sirene erneut! Und schickt mich -  den eingefleischten Eintrachtfan - auf eine Reise durch Raum und Zeit. Hin zu fernen Fußballgalaxien.

Die Abschussrampe steht allerdings nicht in Cape Caneveral oder in der Star Trek Raumstation „Deep Space Nine“, sondern in Brackel.

Brackel? Ja, ja, ja, genau hier, in Dortmund-Brackel, hat der Ballspielverein Borussia sein nagelneues Trainingsgelände errichtet. Alles blau-gelb – sorry, das musste sein, denn Aggros müssen nach einer 0-2 Niederlage auch mal raus – also, alles schwarz-gelb gehalten.

Strenge Einlasskontrollen. Spielerberater dürfen erst gar nicht auf's Gelände. Gefühlte und zum Teil verhüllte hundert Trainingsplätze. Die Jugend trainiert hier, die U23 auch. Und die Profis. Und alle müssen da rein. Und alle wollen, wie auch ich, genau da hinein, in den Footbonaut. Und dieses spacige Fußballraumschiff „Footbonaut“ fliegen!

Der erste Offizier hat hier allerdings keine spitzen Ohren, sondern lange Haare und wie Captain J.K. den Kloppodreitagebart. (James T. Kirk für die Trekkies, Jürgen Klopp für die Borussen).

Der erste Offizierist Chefscout und Videoanalyst des BVB. Und der „Scotty“ an Bord: Er weist mich ein, für meinen ersten Flug: Ich stehe auf Kunstrasen im Mittelkreis des fensterlosen Würfels. Vier Seiten, jede mit einer zentralen Ballmaschine und sechzehn mit Leuchtdioden umrandeten Trefferzonen ausgestattet. 8 unten, 8 oben. Pro Seite. Gesteuert wird das Ganze per PC und dem vernetzten iPad in Scottys Händen. Damit verwaltet er zig Trainings-„Sessions“. Individuelle Trainingsprogramme für Torwart, Innenverteidiger, Sechser, Stürmer - mit festgelegter Ballfrequenz, Pass-Schussgeschwindigkeit der Maschinen, Flughöhe des Balles, eingespielter Stadionatmosphäre per Lautsprecher undundund ... 500 Ballkontakte in dreißig Minuten ermöglicht der Space-Würfel. Bei einer Session pro Woche, die jeder Spieler absolvieren muss, macht das knapp 25.000 Kontakte pro Saison! Alles per Knopfdruck!

Und Scotty tippt auf einmal den Startbutton, der Countdown läuft - und plötzlich verschwimmt alles, und ich düse, düse, düse im Sauseschritt durch meinen inneren Fußballkosmos. Fliege gefühlte hundert Jahre zurück in der Fußballzeit. Zum Trainingszentrum meiner Eintracht, wobei die 200 Kilometer Luftlinie Lichtjahre im Fußball-All bedeuten: Hier trainieren nur die Jugendmannschaften, der Eintracht-Captain-Kirk ward hier - bis Schaaf kam – nie gesehen ... Eine örtliche Verzahnung mit dem Profibereich gibt es nicht. Auch eine U23 fehlt. Die hat der Verein abgemeldet. Aus Kostengründen.

Mit einem Klaps auf die Schulter beamt mich Scotty zurück ins Hier und Jetzt. Brackel! Wenn es nach ihm ginge, könnten alle Bundesligisten ihre U23 abmelden. Und ihre Spieler bei ihm und seinem Captain vorbeischicken. Der schaut auf dem Trainingsgelände überall vorbei. Ob A-Jugend, Footbonaut oder U23: Beim BVB und in Brackel ist die U23 ein wichtiger Baustein der Spielerentwicklung. Hier finden sie – höchst wahrscheinlich – all diejenigen, die es auf dem zweiten Fußball-Bildungsweg schaffen könnten. Die Vergessenen, die Zu-Kleinen, die Zu-Großen, die Spätzünder, deren Technik, Übersicht und Athletik erst in dieser Zeit voll entwickelt wird. Zukünftige WM-Footbonauten wie Lahm, Schweinsteiger oder Khedira, die alle über die U23 kamen. Dafür würde Scotty am liebsten noch zwei Footbonauten aufbauen. Und seine Jungs zu Ronaldo und Messi durch die Nahtstellen der Viererkette passen lassen. Virtuell natürlich. Auf Riesenscreens. So Scottys Visionen.

Rund eine Million kostet der Fußball Spaceshuttle, entwickelt von einem deutsch-tschechischen Tüftler in Berlin-Adlershof. Hoffenheim hat nachgezogen. Andere überlegen. Meine Eintracht ... sicher nicht.

Er zeigt mir meine ersten zehn Schüsse als Auswertung. Die hat er von jedem Spieler auf dem Gelände. Ob C-Jugend, U23 oder Profispieler. Jede Session. Alle Daten abrufbar. Vergleichbar. J.K.´s Mannschaft stützt sich neben den eigenen Eindrücken auf objektive messbare Werte. Wie beispielsweise dem Verhalten beim „Steil-und Klatsch“, einem der modernen Angriffsspielzüge. Steilpass auf Stürmer. Der lässt klatschen. Der Mitspieler versenkt ins grüne Feld. Plötzlich drückt Scotty den nächsten Knopf: „Wir spielen zusammen. Du bist Klatsch“!

Und mich klatscht es schon wieder ganz woanders hin.  Innerlich, LSD-mäßig, direkt nach „Deep Space Nine“: Zum Stadion „Rote Erde“ des BVB. Direkt neben dem mehrmals erweiterten Westfalenstadion – im Fußballkosmos des 21. Jahrhunderts Signal Iduna Park genannt. Hier spielt die U23 vor im Schnitt 5000 Zuschauern. Hier biss vor zig Jahren im Derby ein ausgebüchster Schäferhund einem Schalker in den Allerwertersten. Hier wurden wir Autoren-Europameister mit unserem damaligen Trainer Jörg Berger. Der genau hier mit uns und seinem letzten Titel Abschied nahm von der Fußballwelt und vom Leben.

Und hier entstand „die echte Liebe“, der BVB Mythos, der überall in der Stadt zu spüren ist. Die Patina, ohne die auch der Fußball des 22. und 23.Jahrhunderts nicht überleben wird. Und die auch einen Tag vor dem Spiel als Bierdunst über der leeren Südtribüne wabert.

Und die man in den Katakomben des Signal Iduna Park fühlen kann: Spartanische Umkleiden, nicht anders als die jedes Bezirksligisten - bis auf das moderne Entmüdungsbecken samt Eisfässern. Funktional, fokussiert auf das, wo man herkommt und das Wesentliche: Zwei fest installierte Föne für die Haare der Stars.

In der Kabine des Gegners steht dafür die Null. Kein Fön.

Allerdings herrschen direkt neben der Bezirksliga-Kabine andere Zeiten: In den mit Beamer und Leinwand bestückten Raum bittet Commander Kirklopp seine Spieler in der Halbzeit zur Videoanalyse: per Scottys Zusammenschnitt der Bilder der extra installierten Taktikkamera. Sie ermöglicht, im Gegensatz zum gewohnten Sky-TV-Bild, per Weitwinkel eine 10-auf-10-Aufsicht. Und damit Analyse aller Feldspieler und deren Stellungsspiels. Das alles gehört zu Scottys Reich, das der Captain einführte, als er 2008 die Kommandobrücke übernahm. Die er demnächst verlassen wird.

Daran denke ich kurz vor dem Abpfiff auf meinem Tribünenplatz, auf den mich Scotty direkt aus dem Footbonauten gebeamt hat. Zumindest vermute ich das, leicht benommen von meinem Fußball-Timewarp oder ein paar, natürlich alkoholfreien, Unionbieren.

Es steht 2 zu 0 nach Fönen. Und es steht 2 zu 0 nach Toren. In einem Spiel. In ein und derselben Liga. Zwischen zwei Vereinen. Allerdings aus zwei durch Raum und Zeit komplett getrennten Fußballkosmen.

Als ich auf der Rückfahrt an der alten Unionbrauerei vorbeikomme, wird dort, in schwindelerregender Höhe direkt unter dem riesigen „U“, in gelb und schwarz gekickert. Habe ich eine von Scottys Visionen? Ich schaue genauer: Auf Riesenscreens drehen sich tatsächlich die an Stahlstangen aufgereihten Spielfiguren des Spiels, das jeder Fan liebt: Kickern. Riesig. Schwarzgelb. Überdimensional. Phantastisch. Mitten in und über der Stadt, die nicht nur am Spieltag schwarzgelb trägt.

Ich gebe die Koordinaten meiner Frankfurter Fußballwelt für die Heimfahrt ins Navi ein. „Bring uns nach Hause Scotty!“, denke ich benebelt. Da ertönt es plötzlich aus den Lautsprechern meines Autos: Bumm! Ein Hammerschlag auf Stahl.
Bumm. Die rote Kontrolllampe des BMW erlischt. Bumm. Ich schaue mich um.
Bumm. Bumm.
Dann hebe ich ab. 

von Klaus Döring

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Klaus Döring

Klaus Döring, geboren in Frankfurt am Main, Diplom-Informatiker. Leitete zuerst die EDV einer Filmfirma, bevor er für seinen Arbeitgeber Drehbücher schrieb. Heute arbeitet er als freier Drehbuchautor für bekannte Kinderserien (u.a. Benjamin Blümchen, Simsalagrimm, Biene Maja 3D). Er gewann zweimal den deutschen Kinderfilmpreis Goldener Spatz - für "Simsalagrimm" (Kurzanimation) und für seine aktuelle Kinoadaption des Kinderbuchbestsellers "Rico, Oskar und die Tieferschatten", die zusätzlich mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Der Linksfuß und aktuelle Spielertrainer lebt in Frankfurt am Main und produziert momentan seine erste eigene Animationsserie für den WDR. Sein Moment für die Ewigkeit: auf einem Favela-Sportplatz in Rio von Jimmy Hartwig nicht aufgestellt, dann eingewechselt und nach sieben Minuten wieder ausgewechselt worden zu sein.
 

    

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Evonik Industries, Hauptsponsor von Borussia Dortmund, gehört zu den führenden Spezialchemie-Unternehmen der Welt. Während der BVB mit überraschenden Ideen den Weg zum Tor findet, entwickeln wir innovative Lösungen für unsere Kunden. Und geben dabei Antworten auf die Megatrends Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Für Evonik und Borussia Dortmund gilt: Kreativität macht den Unterschied. Die Fähigkeit, im Labor wie auf dem Platz immer wieder neue Verbindungen herzustellen, entscheidet über unseren Erfolg. Daher haben wir die Kolumne „Evonik Wortsport“ ins Leben gerufen – sie verspricht eine Saison lang immer neue, überraschende Kombinationen von Fußball und Literatur.

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