Die Nachricht war ein Schock. Für alle. Ganz besonders aber für den 28 Jahre alten Fußballprofi und Familienvater: Hodenkrebs! Therapie statt Training, Schmerz statt Spiel. Sébastien Haller hat vom ersten Moment an seine Rückkehr geglaubt, alles dafür gegeben und ein erstaunliches Comeback gefeiert.

„Du kannst Krebs bekommen, aber du kannst ihn auch besiegen. Das habe ich im vergangenen halben Jahr gelernt“, sagt der 28 Jahre alte Franzose. Und: „Du musst nicht nur gegen die Krankheit, sondern auch für deine Kinder kämpfen, du darfst einfach nicht aufgeben.“ Vier Tage vor Heiligabend gab der Arzt sein Okay: Der Patient darf seitdem wieder Profi sein. Und er will Vorbild sein, für alle jungen Männer.

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Bonjour, Sébastien, wie geht es Dir?

Sehr gut, viel besser als im vergangenen halben Jahr, auch wenn dazu nicht viel gehört. Ich hatte eine harte Zeit und bin jetzt in der glücklichen Lage, das Leben noch viel mehr als früher zu genießen. Und als Fußballspieler freue ich mich natürlich darüber, dass ich endlich wieder richtig durchstarten kann.

Dortmund war immer ein schönes Pflaster für dich. Du hast oft und gern gegen den BVB getroffen.

Stimmt! Zweimal in der vergangenen Saison für Ajax Amsterdam in der Champions League, und vorher auch zweimal für Eintracht Frankfurt in der Bundesliga. Auch darüber hinaus habe ich nur die besten Erinnerungen an Dortmund: großartiges Stadion, großartige Atmosphäre, großartiger Fußball! So soll es weitergehen, mit möglichst vielen Toren für den BVB! 

Ich habe mal im Archiv nachgeschaut, welchem deiner Dortmunder Kollegen du zuerst begegnet bist. Kannst du dich noch erinnern?

Hmm, mit Marius Wolf habe ich schon zusammen in Frankfurt gespielt, aber davor... Ich vermute, du meinst einen französischen Muttersprachler. Vielleicht Thorgan Hazard? Auch wenn er im Moment nicht hier ist: Wir kennen uns aus den frühen Jahren meiner Karriere in der vierten französischen Liga, Thorgan hat für Lens gespielt, ich für Auxerre. Oder Rapha Guerreiro? Er hat damals in Caen gegen mich gespielt, das war dann schon in der zweiten Liga.

Zweimal knapp daneben. Es ist Emre Can. Ihr habt euch im Juni 2010 bei einem U-16- Länderspiel zwischen Deutschland und Frankreich duelliert. 

Stimmt, jetzt erinnere ich mich! 3:3, ein wildes Spiel. Emre war schon damals ein unglaublich guter Spieler. 

Ihr habt neben diesem Spiel noch etwas gemeinsam. Emre hatte vor vier Jahren Krebs. Bei einer Routine-Kontrolle in Turin wurde eher zufällig ein Tumor in seiner Schilddrüse entdeckt.

Ich finde es sehr gut, dass er so offen darüber spricht. Wir Fußballspieler stehen in der Öffentlichkeit und haben deswegen eine Vorbildfunktion. Wenn wir nicht auf die Gefahren einer Krebserkrankung aufmerksam machen, wer dann? Schau dir mich an, ich hatte Hodenkrebs, so etwas wird sehr gern verdrängt, gerade bei jungen Männern. Ich will den Leuten zeigen, wie wichtig es ist, sich diesem Thema zu stellen. Du kannst Krebs bekommen, aber du kannst ihn auch besiegen. Das habe ich im vergangenen halben Jahr gelernt.

Gab es einen besonderen Moment, in dem dir aufging: Jetzt habe ich es geschafft?

Eigentlich nicht, weil ich ja nie daran gezweifelt hatte, dass ich wieder auf den Platz zurückkehren würde. Sehr gut erinnere ich mich noch an das Meeting mit unserem Arzt, als er mir sagte: Okay, Sébastien, du kannst wieder ins Training einsteigen. Das war so um den 20. Dezember herum. Da wusste ich, dass der Tumor raus war und nichts mehr von der Krankheit übrig war in meinen Körper. Und danach? Natürlich war das erste Spiel im Trainingslager gegen Fortuna Düsseldorf ein Meilenstein. 

Der nächste Meilenstein war das erste Bundesligaspiel gegen den FC Augsburg. In der 62. Minute bist du für Youssoufa Moukoko eingewechselt worden.

Oh ja! Es war ein großartiges Gefühl, das Vertrauen vom Trainer zu bekommen. Es ist ja etwas anderes, nach einer Krebserkrankung zurückzukommen als von einer Oberschenkelzerrung. Im Profifußball machst du keine Geschenke, da geht es um Ergebnisse. Ich kann das schon einordnen, was es bedeutet, wenn der Trainer mich in einem Bundesligaspiel aufstellt. 

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Du hast das Vertrauen schnell zurückgezahlt. Erst mit der Vorlage für Gio Reyna zum Siegtor in Mainz, dann mit deinem ersten Bundesligator für den BVB gegen Freiburg. Am Weltkrebstag! Direkt vor der Süd! Besser geht’s nicht... 

Was für ein großartiger Moment! Für mich und so viele andere Menschen, in der Mannschaft, im Staff, das ganze Stadion hat gebrannt, diese Unterstützung bedeutet mir unglaublich viel! Dieses Tor hat bestätigt, dass der Trainer richtig lag mit seinem Vertrauen in mich. Und ich habe den Job erledigt.

Ein Schlüsselspiel steigt im April gegen Union Berlin. Gegen Unions Innenverteidiger Timo Baumgartl, der unbedingt gegen dich spielen will. Aus einem ganz besonderen Grund. 

Auch darauf freue ich mich! Timo war wie ich an Hodenkrebs erkrankt, er hat sich nach meiner Diagnose sofort bei mir gemeldet und mir viele Ratschläge gegeben. Das gilt auch für Marco Richter und Jean-Paul Boetius von Hertha BSC, sie wurden wie ich im vergangenen Sommer von der Krankheit überrascht, hatten beide dann das Glück, keine Chemotherapie absolvieren zu müssen.

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Du hast nach deiner niederschlagenden Diagnose im vergangenen Juli zwei Operationen über dich ergehen lassen und vier Chemo-Therapien. Trotzdem hast du in diesem halben Jahr nur an 19 Tagen nicht trainiert. Wie hast du das gemacht? 

Ich kenne mich und meinen Körper sehr gut. Ich weiß, was ich mir zumuten kann und was nicht. Ich gebe für meinen Beruf an jedem Tag, was ich geben kann. Und ich weiß, was mir der Sport gibt. Das hat mir bei der Therapie sehr geholfen. In den ersten Tagen nach einer Chemotherapie ist das nicht so einfach. Du fühlst dich schwach und willst einfach nicht aufstehen, der Antrieb fällt dir schwer. Aber du musst! Die Kinder sind dann schon in der Schule, du musst dich zwingen, etwas zu essen, danach zu trainieren, wieder etwas zu essen, obwohl du eigentlich nicht willst. Das ist hart! Später kommen die Kinder aus der Schule und du widmest dich ihnen, da ist dann kein Platz für die Therapie. Es gibt ein Leben jenseits der Krankheit. Ich wollte gerade in dieser schweren Zeit auch für die Familie leben.

Wie hast du den Kindern erklärt, was da mit dir passiert? Krebs ist kein schönes Familienthema.

Nein, nicht für Kinder und auch nicht für Erwachsene. Meine Frau und ich, wir haben viel gelesen und uns im Internet schlau gemacht. Die alles entscheidende Botschaft war: Versuche bloß nicht, die Krankheit vor den Kindern zu verstecken! Die Kinder haben einen siebten Sinn dafür und finden es sowieso heraus. Sie fühlen es. Wir kennen unsere Kinder, aber sie kennen uns mindestens genauso gut.

Sie kennen dich vor allem als starken, als unverwüstlichen Papa.

Ja, als einen, mit dem sie alles machen konnten, auch auf ihm herumtoben. Das ging auf einmal nicht mehr, nach den Operationen und während der Chemotherapien. Sie haben mir auch angesehen, dass da etwas war, ich hatte ja auf einmal keine Haare mehr. Also haben wir ihnen einen Videoclip gezeigt. Es ging darum, was Krebs ist und was er anrichten kann, dass jeder davon betroffen sein kann – und jetzt eben auch Papa. Was man dagegen tun kann, zum Beispiel die Chemotherapie, dass man dabei eben auch seine Haare verlieren kann, aber dass am Ende alles gut wird. Ich glaube, das Wichtigste für die Kinder war, dass ich für sie da war und ihnen immer das Gefühl gegeben habe, dass sie das Allerwichtigste für mich sind. Und sie haben gesehen, dass es mir dabei gut ging. Das zählt!

Das macht sie stark für die Zukunft. Und sensibilisiert sie dafür, selbst rechtzeitig zu Vorsorge-Untersuchungen zu gehen.

Das ist ein wichtiger Punkt. Meine Kinder sind wegen meiner Erkrankung einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt. Sie werden sich frühzeitig untersuchen lassen müssen. Aber sie haben auch gesehen, wie ihr Vater diesen Kampf aufgenommen und gewonnen hat. Um das mal positiv auszudrücken: Meine Kinder sind für das Thema Krebs sehr früh sensibilisiert worden.

Gibt es Fragen, die du nie wieder hören willst? Etwa: Wie war der Moment, als du von deiner Krankheit erfahren hast?

Nein. Ich verstehe diese Fragen und was hinter ihnen steckt. Ich stelle mich gern. Ich weiß gar nicht, wie viele Nachrichten ich von Freunden, Bekannten und Verwandten über alle möglichen Kanäle bekommen habe. Verdammt viele, und ich habe versucht, sie alle zu beantworten. Schreiben ist schön und gut, aber mir liegt es mehr, den Leuten in die Augen zu schauen und persönlich mit ihnen zu reden. Das war nach der Diagnose nicht so einfach.

Hast du als Mensch profitiert von dem, was im vergangenen halben Jahr passiert ist?

Auf jeden Fall! Ich nehme aus jeder Herausforderung das Positive mit. Schau dir an, welche Zeit ich auf einmal für die Familie hatte! Ich war da, für meine Frau, für meine Kinder! Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, wir waren paddeln, Rad fahren, Golf spielen. Wir hatten Zeit für so viele Sachen, für die sonst nie Zeit war. Bitte nicht falsch verstehen: Ich liebe meinen Job als Fußballprofi, ich will alles für den BVB geben, und genau das habe ich ja auch in der Reha gemacht. Aber die Zeit, die ich nicht der Therapie und meiner Genesung als Fußballspieler widmen konnte, habe ich der Familie gegeben.

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Was dich wahrscheinlich davor bewahrt hat, in ein tiefes Loch zu fallen.

Ganz bestimmt! Geh mal in ein Krankenaus und guck dir Familien an, in denen ein Elternteil von Krebs betroffen ist. Das ist hart, für beide Seiten! Du musst nicht nur gegen die Krankheit, sondern auch für deine Kinder kämpfen, du darfst einfach nicht aufgeben. So war das auch bei mir.

Der Fußball hat dich in diesen schweren Tagen nicht vergessen. Bei der Wahl zu den Weltfußballern des Jahres durftest du den Ballon d’Or an den besten Torhüter der Welt überreichen, an Thibaut Courtois von Real Madrid. 

Das war ein fantastischer Augenblick! Ich war sehr stolz, weil ich nie damit gerechnet hatte. Didier Drogba hat den Abend moderiert, er ist ein Held für mich. Es hat mich sehr berührt, dass er mir einen Teil seiner Rede gewidmet hat. Die Zeremonie fand in Paris statt, ich komme aus der Umgebung, und natürlich war meine Familie da – was für ein Abend!

Ein paar Wochen später warst du selbst wieder als Fußballspieler im Brennpunkt. Im Juli 2022 hast du dich in Bad Ragaz aus dem Trainingslager verabschiedet und dich dann im Januar 2023 in Marbella zurückgemeldet. Ein Kreis hat sich geschlossen.

Der Weg dorthin war lang und hart. Umso schöner ist es, wieder dazuzugehören. Wenn du wieder mit deinen Kollegen zusammenarbeitest, schwitzt und dich austauschst, dann weißt du wirklich: Du bist wieder ein Fußballspieler! Das ist etwas anderes, als einsam durch den Wald zu laufen. Dann das erste Spiel gegen Fortuna Düsseldorf, das erste Tor gegen den FC Basel – sensationell!

Was hat der Krebs mir dir gemacht? Was unterscheidet den Sébastien Haller aus dem Juli 2022 von dem im Februar 2023?

Gute Frage. Ich lebe jetzt sicherlich bewusster als vorher und weiß, was es wert ist, gesund zu sein. Im vergangenen halben Jahr war ich wegen der Krankheit viel präsenter in der Öffentlichkeit als vorher. Ich habe das als Chance wahrgenommen, um für den Kampf gegen den Krebs zu werben. Ich will zeigen, dass es jeden treffen kann. Auch den privilegierten Fußballspieler Sébastien Haller. Dabei war ich doch vorgewarnt, nachdem ich in Frankfurt mit Marco Russ zusammengespielt hatte...

... den ehemaligen Kapitän der Eintracht, der ebenfalls an Hodenkrebs erkrankt war.

Als ich nach Frankfurt kam, hatte er die Krankheit schon besiegt. Wir haben uns in der Kabine darüber ausgetauscht, ich war also für dieses Thema sensibilisiert und hätte doch nie daran gedacht, dass es mich einmal treffen könnte. Nie! Also noch einmal: Vorsorge ist wichtig! Nehmt es bitte ernst! Nehmt mich als warnendes Beispiel! Ich habe das für mich nie kommen sehen. Bis es mich dann doch selbst erwischt hat. 

Autor: Sven Goldmann
Fotos: Alexandre Simoes 

Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.