11.110 BVB-Fans verwandelten die Westfalenhalle in einen wahren Hexenkessel, als Borussia Dortmund Handball-Damen am 19. Februar zum Abschluss der Gruppenphase in der European Leagueauf Siófok KC trafen –  und 26:23 gewannen. 11.100 Fans. Plus Lyna. Plus Mara.

11.112 Schwarzgelbe, die einen Mordsspaß an dieser grandiosen Handball-Party hatten. Darunter zwei mit leuchtenden Augen. „Klar“, sagt Lyna Schwarz, „da wäre ich. Schon gerne dabei gewesen. Auf dem Spielfeld, nicht nur auf der Tribüne.“ Und Mara Birk ergänzt: „Das war wirklich krass und hat uns auf jeden Fall nochmal einen richtigen Motivationsschub gegeben.“ Diesmal waren die beiden BVB-Talente noch zwei von 11.112. Beim nächsten Mal wären sie gerne zwei von 14 „auf der Platte“.

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Yasmin Yusif-Hügle hegt solche Träume nicht mehr. Dem Talent-Alter ist sie entwachsen. Die eigenen Karrierepläne musste sie nach einigen schweren Verletzungen und insgesamt sieben Knieoperationen frühzeitig zu den Akten legen. Der Liebe zum Handballsport aber hat sie nicht entsagt. Die heute 29-Jährige machte aus der Not eine Tugend, stieg in jungen Jahren übergangslos als Nachwuchstrainerin bei der Borussia ein. Aktuell trainiert sie die B-Jugend, hat als Stützpunkttrainerin des Westdeutschen Handball-Verbandes am Goethe-Gymnasium gearbeitet, die A-Lizenz erworben – und ist seit Jahresbeginn 2023 die erste hauptamtliche Jugend-Koordinatorin des BVB. Die neu geschaffene Stelle steht, wie manch andere positive Entwicklung, für die Professionalisierung innerhalb der Handballabteilung. Ein spürbarer Schub für die ohnehin schon hervorragende Nachwuchsarbeit.

Borussia Dortmund investiert seit Jahren viel Zeit und Energie in die Ausbildung junger Spielerinnen. Den Sprung in die Bundesliga schaffen aber die Wenigsten. Ist jetzt die richtige Zeit, das zu ändern?

Yasmin Yusif-Hügle: „Es ist auf jeden Fall unser Anspruch und unser Ziel. Und deshalb ist jetzt die richtige Zeit, es konsequent anzupacken. Wir haben als Verein großes Potenzial. Wir sind schon gut, aber wir haben auch noch viele Möglichkeiten, die Arbeit und die Abläufe zu optimieren. Und wir haben einige Talente in unseren Nachwuchsteams, die es schaffen können, wenn die Rädchen ineinander greifen. Unsere Aufgabe ist es, sie dabei so gut wie möglich zu unterstützen. Durch die Betreuung im Internat, die richtige Balance zwischen Schule, Sport und Freizeit. Durch das richtige Maß von Fördern und Fordern. Und das nötige Maß an Geduld. Letzteres gilt übrigens für beide Seiten – den Verein und die Spielerinnen selbst. Manche wollen zu schnell zu viel und stehen sich dabei selbst im Weg.“

Lyna Schwarz und Mara Birk sind zwei dieser Talente, die es schaffen können. Dass sie sich dabei selbst im Weg stehen könnten – diesen Eindruck vermitteln sie nicht, Die eine, Lyna, gerade 19 Jahre alt geworden, hat mit 185 cm Gardemaß für eine Rückraumspielerin. Die andere, Mara, noch 17 Jahre jung, Linkshänderin, ist deutlich kleiner, dafür pfeilschnell. Eine klassische Rechtsaußen. Beide spielen aktuell in der A-Jugend und mit der zweiten Mannschaft in der 3. Liga. Beide standen auch bereits im Kader des Bundesliga-Teams. Lyna feierte ihr Debüt beim 31:29 gegen Metzingen. Auf ihr erstes Tor wartet sie noch. In der Saison-Statistik 2022/23 aber hat sie sich schon einmal für alle Zeiten verewigt – mit einer Zeitstrafe. Mara schnupperte am 8. Februar beim 28:21 in Halle-Neustadt erstmals Profi-Luft. Nur der Pfosten stand ihrem ersten Bundesliga-Tor im Weg. Aufgeschoben. Gewiss nicht aufgehoben.

„Irgendwann hat es mir nicht mehr gerreicht, einfach so zu spielen.“

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Ihr habt euch dafür entschieden, Leistungssport auf Top-Niveau zu betreiben. Was hat euch dazu gebracht – und was treibt euch an?

Lyna: „Ehrlich gesagt, kenne ich gar nichts anderes als Handball. Ich kann und will mir ein Leben ohne auch nicht vorstellen. Meine Eltern haben beide Handball gespielt. Ich bin in der Halle aufgewachsen. Ich selbst spiele, seit ich denken kann. Irgendwann hat es mir nicht mehr gereicht, einfach nur zu spielen. Dazu bin ich zu ehrgeizig. Ich wollte mich verbessern und weiterkommen.“

Bei Mara war’s ähnlich. Beide Eltern Handballer, Mutter Stefanie sogar in der 2. Liga. Mara ist schon mit Schnuller in der Schnute und Kuscheltier im Arm durch die Kamener Sporthallen gewuselt. Über Lünen ging’s auch für sie zum BVB. Nicht direkt ins Internat, weil ihr Vater in Dortmund arbeitet und sie anfangs noch abends mit nach Hause genommen hat. Inzwischen ist aber auch sie Teil der schwarzgelben Handball-Familie.

Lyna: „Genau das ist der Unterschied. In anderen Vereinen ist man Teil einer Mannschaft. Hier beim BVB sind wir Teil einer großen Familie. Wir trainieren und spielen ja nicht nur zusammen. Wir leben zusammen.“

Mara: „Auch privat sind wir meistens in unserer Handball-Bubble. Es war schon komisch, als der Spielbetrieb zu Beginn der Coronapandemie eine Zeit lang ruhte und wir noch nicht einmal trainieren durften. Da habe ich mich manchmal schon gefragt, was ich mit meiner ganzen freien Zeit anfangen soll. Das kannte ich in dieser Form überhaupt nicht.“

„Hier beim BVB sind wir Teil einer großen Familie. Wir trainieren und spielen ja nicht nur zusammen. Wir leben zusammen.“

Zu viel Zeit zu haben, ist normalerweise nicht ihr Problem. Eher umgekehrt. Sieben bis acht Trainingseinheiten stehen wöchentlich auf dem Programm. Dazu die Spiele mit der A-Jugend – auf Topniveau gegen Gleichaltrige. Dazu die Spiele mit der zweiten Damenmannschaft in Liga drei – auf Topniveau gegen Spielerinnen, die oft zehn, manchmal 15 Jahre älter sind. Und erfahrener. Und physisch häufig überlegen.

Yasmin Yusif-Hügle: „Talent zu haben, ist das Eine. Von einem bestimmten Alter an brauchen die Mädchen aber auch diese höhere Trainingsintensität, um sich weiterzuentwickeln und ihr Potenzial zu entfalten. Unsere Verantwortung besteht darin, die Belastung zu dosieren und zu steuern. Wer jünger ist und neu ins Internat kommt, trainiert natürlich weniger als Spielerinnen, die älter, schon länger dabei und an die Situation gewöhnt sind. Wir machen eine Jahresplanung. Wir wissen, in welchen Saisonphasen die Peaks liegen. Wenn viele Spiele innerhalb kurzer Zeit anstehen, wird weniger trainiert. 

Gleichwohl nützt die beste Planung nichts, wenn sie frontal mit Terminen kollidiert, auf die der Handball keinen Einfluss hat. Lyna und Mara machen in diesem Jahr ihr Abitur. Genauer: in diesen Wochen. Und just in diesen Wochen kämpfte sie mit der A-Jugend des BVB auch darum, das „Final Four“ zu erreichen, das Turnier der vier besten Mannschaften ihres Jahrgangs um den Deutschen Meistertitel. Wie passt das zusammen? Passt das überhaupt zusammen? Verpassen sie da nicht auch viel?

Mara: „Die beiden Viertelfinalspiele gegen Leipzig rahmen die Osterferien ein. Mitte April stehen auch die Abi-Klausuren an. Natürlich wollen wir gegen Leipzig weiterkommen und im Optimalfall Meister werden. Und natürlich will ich ein gutes Abi machen. Ich habe ja neben den sportlichen auch berufliche Ziele. Ich möchte direkt im Wintersemester 2023/24 mit dem Studium beginnen und Grundschullehrerin werden. Die Arbeit mit kleinen Kindern ist definitiv genau mein Ding.“

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Lyna: „Die Woche vor dem ersten Viertelfinale in Leipzig ist unsere Mottowoche am Gymnasium. Die Chance, das Final Four zu erreichen und der Abschluss der Schulzeit mit all deinen Freunden – das hast du beides nur einmal im Leben. Aber du weißt natürlich auch: Wenn du eine Woche lang volles Programm die Mottowoche feierst, wirst du beim Handball nicht deine beste Leistung bringen können. Da musst du dann eben Prioritäten setzen.“

Ihre Prio 1 ist Handball. Mara hat noch ein Jahr A-Jugend vor sich. Ein Jahr, in dem sie außer- dem in der 3. Liga spielen und weiter an der Bundesliga schnuppern kann. Lyna lässt die Jugend am Ende der Saison hinter sich. Ein Jahr wird sie dann noch beim BVB bleiben, in der zweiten Mannschaft spielen und versuchen, in der ersten Fuß zu fassen. Was 2024 kommt, steht in den Sternen. Lyna weiß noch nicht, wohin es sie verschlägt. Deshalb will sie auch im Herbst noch kein Studium beginnen, die Zeit stattdessen für Praktika nutzen. Ihr Beispiel macht deutlich: Die Anforderungen sind hoch bei der Borussia, die den Anspruch hat, in der Bundesliga um den Titel mitzuspielen und den deutschen Frauen-Handball in Europa zu repräsentieren. Wer mit 19 oder 20 Jahren keine klare Entwicklungsperspektive in Richtung Bundesliga-Kader erkennen lässt, muss fürchten, durchs Raster zu fallen. Das ist viel Druck für einen Teenager. Zu viel Druck vielleicht? Gibt es da nicht zwangsläufig Momente, in denen sie zweifeln oder Angst haben, es nicht zu schaffen?

Lyna: „Man lernt, damit umzugehen. In meiner ersten Saison beim BVB war die Belastung ungewohnt. Mein Körper hat sich gemeldet. Ich hatte eine Knochenhautentzündung, mehrere Bänderrisse. Zum Glück nicht das Kreuzband. Aber immer, wenn ich eine Verletzung gerade auskuriert hatte, kam wieder ein Rückschlag. Das war eine schwierige Phase, aber ich habe sie durchgestanden – und das hat mich im Nachhinein eher gestärkt.“

Mara: „Ich hatte bisher das Glück, nie schwerer oder über einen längeren Zeitraum verletzt gewesen zu sein. Es gab mal eine Phase mit Rückenproblemen, aber das war nicht so gravierend. Außerdem sind wir ja nie alleine. Die Gruppe fängt einen auf, und auch im Verein hat immer jemand ein offenes Ohr.“

Lyna: „Die Spielerinnen der Bundesliga-Mannschaft haben uns auch sehr nett und offen aufgenommen. Gerade die jüngeren wie Dana Bleckmann und Lena Hausherr, bei denen der Wechsel aus der Jugend in den Seniorenbereich noch nicht so lange her ist. Allerdings spürt man auch den schärferen Konkurrenzkampf auf den Positionen. Da brauchst du schon ein gesundes Selbstbewusstsein. Als stilles Mäuschen kommst du da nicht weiter.“

Mehr Informationen zum Wechsel von Dana Bleckmann und Lena Hausherr aus der Jugend in den Seniorenbereich gibt es hier

Erst recht nicht auf Lynas Position. Der Rückraum prägt ein Handballspiel. Die Mittelfrau und die beiden „Halben“ haben im gebundenen Spiel häufiger den Ball. Sie sagen die Spielzüge an, initiieren sie, geben dem Spiel die Struktur. Sie verteilen die Bälle und setzen die beiden Außen und die Kreisläuferin in Szene. Sie müssen binnen kürzester Zeit viele Entscheidungen treffen und sind umso besser, je mehr dieser Entscheidungen richtig sind. Das setzt neben Kreativität und Spielintelligenz auch ein gewisses Maß an Erfahrung voraus. Die ersten beiden Tugenden sind keine Frage des Alters. Erfahrung schon. Erfahrung kannst du mit 19 Jahren nicht haben. Sie muss wachsen. Und sie wächst nur mit viel Spielpraxis. „Deshalb kann es“, sagt Yasmin Yusuf-Hügle, „manchmal Sinn machen, für eine gewisse Zeit zu einem Verein zu wechseln, der dir genau das bietet.“ 

Wie man es intelligent und planvoll anstellen kann, zeigt das Beispiel von Alina Grijseels. Die Spielführerin der BVB-Damen, 2020 und 2021 zweimal hintereinander Deutschlands Handballerin des Jahres, spielte in der seinerzeit bärenstarken Jugend des TV Aldekerk und parallel mit Doppelspielrecht bereits bei den Seniorinnen für den TV Aldenrade (Oberliga), im Jahr darauf für den TuS Lintfort (3. Liga). Auch nachdem sie im November 2014 zum damaligen Zweitligisten BVB gewechselt war, blieb sie Aldekerks Nachwuchs weiter treu. Der Lohn: Am Ende der Saison 2014/15 stieg Alina Grijseels mit Borussia Dortmund in die Bundesliga auf und wurde mit der A- Jugend des TVA Vierte der Deutschen Meisterschaft. In diesen drei Jahren hat sie Spielpraxis ohne Ende gesammelt, im Jugendteam Verantwortung genommen und im Seniorenbereich einen Schritt nach dem anderen gemacht. Immer vorwärts. Nie zurück. Aber behutsam. Nicht mit dem Kopf durch die Wand. Sie hat in dieser wichtigen Phase den Grundstein gelegt für eine Karriere auf Weltklasse-Niveau. 

Mara: „Wenn du im Handball erfolgreich sein willst, muss viel zusammenkommen. Das ist im Mannschaftssport ja generell so, aber Handball ist, finde ich, super-komplex. Es passiert so viel. Und es kann immer alles passieren. Du kannst als einzelne Spielerin viel bewirken und bewegen – aber letztlich muss die Gruppe harmonieren.“

Nur dann spielt so eine „Gruppe“ vielleicht auch mal vor 11.112 Zuschauern in der Westfalenhalle 1. Pardon – vor 11.110. Denn beim nächsten Mal stehen Lyna und Mara ja mit den anderen Spielerinnen mit Harz an den Händen unten „auf der Platte“…

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Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.  

Autor: Frank Fligge

Fotos: Mareen Meyer