Story
Ein Sieg gegen alle Zweifel, ein Triumph für die Ewigkeit
Von Boris Rupert
Borussia Dortmund hatte 1995 („Meisterschaft der Herzen“) und 1996 („Meisterschaft der Nerven“) den Titel gewonnen, rund um den Borsigplatz für eine unfassbare Euphorie gesorgt und den deutschen Fußball dominiert. Es war die Folge eine klaren, aber teuren Transferpolitik. Die Vision der Vereinsführung vom BVB als einer europäischen Fußball-Großmacht hatte durch die Rück- und Zuführung von mehr als einem halben Dutzend Italien-Legionären (Stefan Reuter, Matthias Sammer, Karl-Heinz Riedle, Andras Möller, Julio César, Jürgen Kohler und Paulo Sousa) Unsummen verschlungen.
Dass es 1996/97 in der Champions League – im Vorjahr ist man im Viertelfinale klar an Ajax Amsterdam gescheitert – zum ganz großen Wurf langt, steht auf keiner Agenda. Andererseits kommt das schwache Abschneiden in der Liga unerwartet. Für 1997 ist nämlich der „Hattrick“ als Ziel ausgerufen, also die dritte Deutsche Meisterschaft in Serie. Bis zum Ende der Hinrunde ist man noch einigermaßen auf Kurs, hat nur zwei Zähler weniger als Herbstmeister Bayern München.
Nur 29 Punkte in der Bundesliga-Rückrunde
Doch die Rückrunde gerät zum Debakel. Sechs Niederlagen – gegen Düsseldorf (0:2), Stuttgart (1:4), Gladbach (1:3), Duisburg (2:3), Bielefeld (0:2) und Hamburg (1:2) – kassiert der Deutsche Meister; nur sieben Klubs gehen in der zweiten Saisonhälfte häufiger als Verlierer vom Rasen als der BVB, der am vorletzten Spieltag beim HSV die allerletzte Chance auf Platz zwei verspielt, der in jener Saison erstmals auch zum Einzug in die lukrative Königsklasse berechtigt.
Doch die Protagonisten von damals widersprechen der These entschieden, dass sie Kraft und Konzentration ausschließlich in die Champions League investiert hätten. Andreas Möller macht massives Verletzungspech für die geplatzten Meisterschaftsträume verantwortlich. „Wir mussten ständig wegen irgendwelcher Ausfälle improvisieren“, hadert er, „uns sind immer wieder Stammspieler weggebrochen.“ In der fraglichen Saison kommt Julio César nur auf zehn Liga-Einsätze, Paulo Sousa nach einer Patellasehnen-Operation nur auf elf, Matthias Sammer auf 16, Karl-Heinz Riedle auf 18. „Mit diesen gravierenden Ausfällen war kein großer Wurf in der Meisterschaft möglich“, meint Möller. Tatsächlich schlagen Verletzungen eine breite Schneise in den BVB-Kader.
Vor dem Finale wackelt die halbe Mannschaft
Angespannt ist daher vor dem 42. Endspiel um den Europapokal der Landesmeister nicht nur die sportliche und damit wirtschaftliche Situation durch das Verpassen von zumindest Platz zwei in der Liga, sondern auch die personelle Lage. An einen Einsatz des wichtigsten Innenverteidigers, Julio César, ist ebenso wenig zu denken wie an den von Europameister Steffen Freund im Mittelfeld. In René Schneider fehlt ein weiterer Abwehrspieler.
Als die Mannschaft am Montag, 26. Mai 1997, nach München fliegt, weiß Ottmar Hitzfeld noch nicht, wen seiner Stars er wird einsetzen können. Andreas Möller (Blutergusses im Oberschenkel), Karl-Heinz Riedle (Risswunde auf dem Schienbein), Paulo Sousa (Knieprobleme) und Heiko Herrlich (Schlag auf die Achillessehne) sowie die muskulär angeschlagenen Matthias Sammer, Stefan Reuter und Jürgen Kohler gelten als fraglich. Und Lars Ricken hat ganz andere Probleme abwehren müssen.
„Schon fürs Viertel- und Halbfinale benötigte ich Sonderurlaub von der Bundeswehr. Die waren gar nicht so begeistert. Und mein Hauptfeldwebel war Schalker. Um das Finale spielen zu können, brauchte ich vier Tage frei. Am Wochenende vorher hatte ich aber vergessen, meinen Spind abzuschließen. Da war meine Gewehrkarte drin. Theoretisch hätte jemand damit mein Gewehr holen und jemand anderen erschießen können. Dafür wollte man mich für drei Tage ins Militärgefängnis stecken. Ich musste aber leider sagen: Geht nicht, wir spielen gegen Juve in der Champions League. Stattdessen musste ich dann später ein paar Nachtdienste übernehmen.“
Warum sich Hitzfeld gegen Feiersinger entscheidet
Ricken ist mit dabei. Und als sich die angeschlagenen Spieler allesamt einsatzbereit melden, ist Hitzfeld die Erleichterung im Gesicht abzulesen. „Denn am Ende interessiert nur das Ergebnis und nicht, welche Spieler dir gefehlt haben. So wusste ich an dem Abend: Wir können eine starke Mannschaft aufs Feld bringen. Unsere medizinische Abteilung hat hervorragende Arbeit geleistet.“
Doch der Trainer hat mit einem weiteren Problem zu kämpfen. Er darf nur 16 Spieler nominieren, nicht 23, wie es heutzutage erlaubt ist. Er entscheidet sich gegen Wolfgang Feiersinger, der in allen K.o.-Spielen zum Einsatz gekommen ist, in den Halbfinalduellen gegen Manchester die Abwehr zusammengehalten hat. „Das war mit einer der schwersten Entscheidungen in meinem Leben. Auf der einen Seite gibt es die sportliche Komponente, auf der anderen die menschliche. Und menschlich war es eine Katastrophe, ihm sagen zu müssen: Du bist nicht dabei. Denn wir hatten ihm viel zu verdanken. Doch in einem Finale geht es um den maximalen Erfolg, und hierfür muss man die Alternativen auf der Bank haben. Ich habe mich für offensivere Spieler entschieden, weil man damit rechnen musste, gegen Juventus in Rückstand zu geraten. Und dann sind offensivere Spieler wertvoller.“
Gegen das beste Team und gegen die Vergangenheit
Juventus hat den Titel im Vorjahr durch ein 4:2 im Elfmeterschießen gegen Ajax Amsterdam gewonnen und ist vor dem fünften Endspiel der UEFA Champions League (oder dem 42. Finale um den Europapokal der Landesmeister; denn um diese Trophäe geht es) haushoher Favorit. Es ist das siebte Aufeinandertreffen beider Klubs seit Mai 1993, also innerhalb von vier Jahren. Doch nur einmal haben sich die Schwarzgelben durchsetzen können – in einer Partie, in der es für Turin um nichts mehr ging. Hinzu kommen ein 2:2 im UEFA-Cup-Halbfinale 1995 sowie vier Niederlagen.
Das Spiel nimmt zunächst den erwarteten Verlauf: Borussia findet sich weitgehend in der Defensive wieder, agiert hektisch und gehemmt, versucht aber, unterstützt von über 30.000 eigenen Fans im Münchner Olympiastadion (59.000 Zuschauer) sporadisch für Entlastung zu sorgen.
Zinedine Zidane ist anfangs von Paul Lambert kaum unter Kontrolle zu bringen. Der Franzose initiiert Angriff um Angriff. Nach einer Flanke von Christian Vieri kommt Vladimir Jugovic im Zweikampf mit Stefan Reuter am Elfmeterpunkt zu Fall, doch Schiedsrichter Sandor Puhl lässt weiterlaufen. In der vierten Minute ist es eine Standardsituation, die für größte Gefahr sorgt: Juliano köpft eine Zidane-Ecke knapp neben das Tor. Wenig später trifft Vieri das Außennetz.
Es dauert eine gute Viertelstunde, bis es die Schwarzgelben schaffen, Juves Fuß vom Gaspedal zu schieben und das Geschehen etwas zu beruhigen. Die Angriffe sind zwar nicht so flüssig wie gewohnt, dafür aber deuten die schnellen Konter bereits an, wo an diesem Abend eine Chance liegen kann. Dass sich die Mannschaft zerreißt und in jeden Zweikampf schmeißt, als wäre es der letzte, muss nicht gesondert erwähnt werden.
Riedle trifft doppelt, Juventus erhöht den Druck
Dann die 29. Minute. Die Italiener haben einen dieser Konter auf Kosten eines Eckballs abwehren können. Den schlägt Andreas Möller in den Strafraum. Torwart Angelo Peruzzi faustet, ein Mitspieler verlängert ihn nach außen. Rechts, außerhalb des Strafraums, aber steht nur ein Dortmunder: Lambert flankt gefühlvoll nach innen, Riedle nimmt den Ball mit der Brust an und legt ihn sich vor auf den linken Fuß – trockener Schuss an der Fünfmeterlinie, das 1:0! Der Torschütze hat sich dabei im Rücken von zwei Italienern durchgesetzt und dem Torwart keine Chance gelassen. Auch im elften Spiel der Champions-League-Saison 1996/97 ist den Borussen damit das erste Tor der Partie geglückt. Und Juve liegt erstmals zurück – und lässt sich dann abermals nach einer Ecke brüskieren: Chapuisat hat diese nach Doppelpass mit Möller erzwungen, und wieder ist es Möller, der sie hereingibt, wieder von der linken Seite, wieder kommt Riedle an den Ball, diesmal wuchtig per Kopf aus acht Metern – nach 34 Minuten führt Borussia Dortmund gegen den haushohen Favoriten mit 2:0.
Juventus Turin reagiert mit wütenden Attacken. Zidane trifft mit einem Schuss aus 17 Metern den Pfosten, Vieris Treffer zählt nicht, da der Italiener zuvor die Hand eingesetzt hat. Mit Glück, Geschick und einem großen Kämpferherz bringen die Borussen den Vorsprung in die Halbzeitpause. Hitzfeld ist weiterhin nervös: „Juventus hatte eine überragende Mannschaft, die in Zidane auch den besten Spieler auf dem Platz hatte. Dass wir weiter verteidigen und auf Konter lauern mussten, war eine logische Folge.“
Nach Möllers Freistoßflanke köpft Riedle knapp vorbei, auf der anderen Seite pariert Stefan Klos einen Gewaltschuss von Alen Boksic glänzend, dann lenkt er einen abgefälschten und daher immens tückischen Schuss von Vieri ans Lattenkreuz. In der 64. Minute aber ist der Anschlusstreffer nicht mehr zu verhindern. Boksic setzt sich auf der linken Seite gegen Jörg Heinrich durch, die Hereingabe aber scheint zu ungenau, gerät in den Rücken des zur Pause eingewechselten Jungstars Alessandro Del Piero, doch der bugsiert die Kugel technisch höchst anspruchsvoll mit der Hacke ins BVB-Tor.
Ricken kommt mit einem Plan ins Spiel
Borussia Dortmund aber findet die perfekte Antwort. Ottmar Hitzfeld zaubert seinen Joker aus dem Ärmel: In der 70. Minute schickt er Lars Ricken für den ausgepowerten Chapuisat auf den Rasen: „Zum Leid von Lars Ricken war er der beste Joker! Er war für mich der größte Trumpf, den ich aus dem Ärmel ziehen konnte. Er hätte es verdient gehabt, von Anfang an zu spielen, aber ich habe mich für die taktische Variante entschieden. Und ich wusste aus Erfahrung, wenn er von der Bank kommt, ist er noch stärker, als wenn er von Anfang an spielt.“
„Natürlich war ich ein bisschen enttäuscht, weil ich ja gegen Manchester und gegen Auxerre jeweils das 1:0 geschossen habe. Aber ich war nicht grummelig oder gar sauer, dass er mich auf die Bank gesetzt hat. Das war einfach die große Stärke von Ottmar Hitzfeld. Er hat mir erklärt, warum ich nicht spiele, dass er mich aber auf jeden Fall irgendwann im Laufe des Spiels brauchen wird. Denn zu jedem Zeitpunkt wäre ein Tor notwendig gewesen. Entweder, weil wir knapp in Führung liegen, oder weil wir einen Rückstand aufholen müssen. Viele Spiele auf dem Niveau entscheiden sich vor dem Hintergrund: Was kannst du noch von der Bank bringen? Ich habe versucht, den anderen ein wirklich gutes Gefühl zu geben und wusste, irgendwann komme ich rein. Und auf diesen Moment wollte ich so gut wie möglich vorbereitet sein. Von der Bank aus habe ich gesehen, dass Peruzzi die ganze Zeit extrem weit vor dem Tor stand und bin mit dem Gedanken ins Spiel gegangen: Wenn du einen Ball bekommst, schieß ihn sofort aufs Tor. Wahnsinn, dass sich die Situation dann genau so entwickelt hat, dass es tatsächlich die beste aller Möglichkeiten war, es so zu machen. Und sie kam nur deshalb zustande, weil sich mein Gegenspieler von mir löst und stattdessen Andy angreifen will. Wenn er das nicht macht, passiert das Tor nicht!“
Acht Sekunden von der Einwechslung bis zum Tor
Juve setzt das Spiel mit einem Einwurf fort, doch bevor Boksic an den Ball kommt, hat Paulo Sousa ihn bereits „geklaut“, blitzschnell weitergeleitet auf Möller, der die Lücke in der Turiner Abwehr sieht, den Ball perfekt durch die Schnittstelle spielt. Ricken erläuft ihn, schaut einmal kurz hoch zum weit vor seinem Tor postierten Peruzzi, nimmt aus 26 Metern halbrechter Position Maß und schießt ihn per Bogenlampe rechts oben in den Winkel – ein Traumtor nach einem perfekten Konter! Acht Sekunden ist Ricken auf dem Platz, acht Sekunden! RTL-Kommentator Marcel Reif, der eine Zehntelsekunde vor Rickens Schuss „lupfen, jetzt!“ gefordert hat, meint: „Das sind Märchen, die gibt’s nicht. Die Gebrüder Grimm drehen sich im Grabe um.“
Für Juventus Turin gibt es keine märchenhafte Auferstehung mehr in diesem Spiel. Das 3:1 ist die Entscheidung. Vom erneuten Zwei-Tore-Rückstand erholt sich Italiens Rekordmeister nicht, auch wenn Hitzfeld zweifelt bis zum Schluss. „Bis zur letzten Sekunde war ich angespannt. Man darf als Trainer nie loslassen. Aus Erfahrung weiß man, was in den letzten Minuten alles passieren kann. Und man spielt gegen Juventus, das innerhalb von zwei Minuten zwei Tore machen kann. Die Nachspielzeit vergeht so langsam, wenn man in Führung liegt. Ist man in Rückstand, zerrinnt sie.“
Kurzzeitige Irritationen gibt es dann nur noch vor der Siegerehrung. Da der langjährige Kapitän Michael Zorc erst in der 89. Minute eingewechselt worden ist, trägt Matthias Sammer, sein Vertreter, weiterhin die Binde. Die Mannschaft drängt Zorc aufs Podium, damit dieser den Pokal als Erster in Empfang nimmt. Doch Zorc ziert sich, ehe Sammer ein Machtwort spricht: „Mach voran und geh’ endlich nach oben!“
Der letzte Schlusspfiff als BVB-Trainer
„Es war eine sehr, sehr schwierige Entscheidung, einen derart verdienten Spieler wie Michael Zorc in diesem Finale auf die Bank zu setzen“, sagt Ottmar Hitzfeld 25 Jahre danach: „Und es war klar, dass ich ihn bringen würde. Wenn man den Pokal empfängt, muss der Kapitän ihn bekommen.“
Es wird eine lange Nacht in München. „Wenn man mit den Fans, mit der Mannschaft, mit den Verantwortlichen etwas Großes erreicht hat, ist das etwas Besonderes. Dann muss man den Moment genießen. Und das habe ich auch“, versichert Ottmar Hitzfeld. „Die Feier war ein Erlebnis. Dass ich dort eine Zigarre im Mund hatte, obwohl ich Nichtraucher bin, und eine Pickelhaube auf dem Kopf, zeigt, dass ich den Moment genossen habe. Sehr.“
Das 3:1 gegen Juventus ist Hitzfelds letztes von 273 Spielen als Cheftrainer von Borussia Dortmund, wenige Tage später wechselt er auf den neugeschaffenen Posten des Sportmanagers, zur folgenden Saison kehrt er dann auf die Trainerbank zurück. Beim FC Bayern München.
Der 28. Mai 1997 nimmt im Leben des gemeinsam mit Udo Lattek erfolgreichsten deutschen Trainers den höchsten Platz ein. „Die Champions League mit einem Verein zu gewinnen, der so lange darauf gewartet hat, wieder ein internationales Endspiel zu gewinnen, ist für mich der höchste und der bedeutendste Erfolg meiner Karriere. Der Weg mit Borussia Dortmund in dieses Finale war gigantisch. Und dann auch noch Juventus Turin, die beste Mannschaft jener Zeit mit Zinedine Zidane zu schlagen, war wie im Märchen.“