Niemand bestritt so viele Spiele für Borussia Dortmund wie er, nur Adi Preißler schoss mehr Tore. Niemand trug so lange die Kapitänsbinde, niemand feierte so viele Erfolge wie Michael Zorc. 44 Jahre im Verein. 20 Jahre als Spieler, 24 weitere Jahre als Verantwortlicher für den sportlichen Bereich. Mit Ablauf dieser Saison endet eine Ära.

Deutschland im Jahr 1978. Im Kanzleramt sitzt Helmut Schmidt, die Handballer werden Weltmeister – und die Fußballer blamieren sich: Stichwort „Schmach von Córdoba“. „Konspirative Wohnung“ ist das Wort des Jahres.

Dortmund im Jahr 1978. Die ersten Anzeichen des Strukturwandels deuten sich an in der Stahl- und Bierstadt. Viele der einst 116 Zechen haben Schicht im Schacht. Doch noch qualmen die Schlote, poltern scheinbar endlos lange Güterzüge, beladen mit Koks und Kohle, über das Schienenband zur eisen- und stahlerzeugenden Industrie. Die Borussia, der größte und bedeutendste Fußball-Klub der Stadt, spielt seit zwei Jahren wieder erstklassig, muss sich aber noch vom Schock des 0:12 gegen Borussia Mönchengladbach zum Ende der Vorsaison erholen.

Eving im Jahr 1978. Die Zechen Minister Stein und Fürst Hardenberg sind (noch) die wichtigsten Arbeitgeber im nördlichen Stadtteil der Reviermetropole. Im trockenen Sommer weht die staubige Asche über das Eckey-Stadion. Der Hartplatz ist die Heimat des TuS Eving-Lindenhorst. Von hier schaffen drei Spieler im Jugendalter den Sprung zu Borussia Dortmund. Sie alle gewinnen mit dem BVB 1997 die UEFA Champions League: Vor Stefan Klos und lange vor Lars Ricken ist es Michael Zorc, der seinen Jugendklub im Sommer 1978 verlässt. Noch ahnt er nicht, dass er die Geschicke von Borussia Dortmund prägen wird wie kaum ein anderer in der Geschichte des ersten deutschen Europapokalsiegers.

Niemand bestritt so viele Pflichtspiele für den BVB wie er (572), nur Adi Preißler schoss mehr Tore als Zorc (159). Niemand trug länger die Kapitänsbinde (neun Jahre, von 1988 bis 1997), niemand feierte mehr und bedeutendere Erfolge. Mit Michael Zorc wurde der BVB 1995, 1996, 2002, 2011 und 2012 Deutscher Meister sowie 1989, 2012, 2017 und 2021 Deutscher Pokalsieger, gewann 1997 die UEFA Champions League sowie den Weltpokal – den ersten, letztlich vorentscheidenden Treffer im Finale von Tokio schoss Publikumsliebling Michael Zorc.

In seiner Vita steht nur ein einziger Vereinswechsel. Der vom TuS Eving-Lindenhorst zu Borussia Dortmund. Mehr an Treue und Identifikation geht nicht! Schon zu Zweitligazeiten und damit lange vor seinem Wechsel stand der junge Zorc auf der Südtribüne und feuerte die Mannschaft an. „Ich bin in einem Dortmunder Vorort groß geworden, in Eving. Jeder Junge hatte da den Traum, irgendwann für den BVB zu spielen. Ich bin froh, dass ich die ganze Karriere beim BVB verbracht habe. Gegen Ende kamen dann ja auch die Titel.“

Nach Junioren-EM und dem Gewinn der Weltmeisterschaft im Oktober 1981, wo er in Australien gemeinsam mit seinem Vereinskollegen Ralf Loose in allen sechs Partien zum Einsatz kommt, beschert ihm der damalige BVB-Trainer Branko Zebec am 24. Oktober 1981 das Bundesliga-Debüt. „Ich bin für Heinz-Werner Eggeling eingewechselt worden und habe dann nach dem Winter mehrheitlich von Anfang an gespielt. Es war keine einfache Zeit, weil ich nebenbei mein Abitur gemacht habe“, sagt Zorc über seinen Weg in den Profifußball, der für junge Spieler damals ein ganz anderer war als heute. Es gab keine Nachwuchsleistungszentren, keine Internate – und es gab noch die Wehrpflicht. Wer aber wie Zorc bei der Sportkompanie war, wurde für Training und Spiele freigestellt.

In seiner ersten Profisaison – 1981/82 – kommt Michael Zorc neunmal zum Einsatz. Borussia belegt am Ende wie in den Vorjahren auch einen Platz im oberen Mittelfeld. Rang sechs reicht diesmal zur ersten Europapokal-Teilnahme seit 1966. Bei der (kurzen) Rückkehr auf die europäische Bühne, am 15. September 1982 beim 0:0 gegen die Glasgow Rangers, steht der gerade 20-Jährige wie selbstverständlich in der Startelf.

Doch Zebec ist da schon nicht mehr Trainer. In Feldkamp, Witte, Maslo, Tippenhauer, Franz, Konietzka, Ribbeck, Csernai und Saftig erlebt Zorc neun Übungsleiter in nicht einmal vier Jahren. Er selbst ist die einzige Konstante in turbulenten Zeiten. Der defensive Mittelfeldspieler steuert in diesen vier Saisons zwar 25 Tore bei, doch am Pfingstmontag 1986 steht der Klub vor dem Abgrund. Im Relegations-Rückspiel gegen Fortuna Köln gibt es in der 54. Spielminute beim – addierten – Stand von 0:3 Elfmeter für Borussia Dortmund. Es ist die vermutlich letzte Chance, das Blatt noch zu wenden.

War dies der wichtigste Schuss Deiner Karriere?
Vermutlich. Wenn der Ball nicht reingegangen wäre, wären wir vermutlich abgestiegen und wüssten nicht, wie die Geschichte von Borussia Dortmund weitergegangen wäre. Am Ende hat Jürgen Wegmann mit dem 3:1 den Gleichstand erzwungen. Zum Glück gab es die Auswärtstorregel damals in der Relegation nicht. Mit dem Entscheidungsspiel dann in Düsseldorf wurde die berühmte BVB-Karawane geboren, als uns dreißig-, vierzigtausend Menschen begleiteten.

Unter Reinhard Saftigs Leitung erlebt der BVB eine Renaissance, stürmt in der Saison darauf auf Rang vier und damit in den UEFA-Pokal. Zorc schießt 14 Tore, im Jahr darauf sind es 13. Zum Start der Vorbereitung auf die Spielzeit 1988/89 will der Trainer seinen Führungsspieler zum Kapitän machen. Der bisherige Amtsinhaber Frank Mill bekommt Wind von der Geschichte und involviert Präsident Gerd Niebaum. Es kommt zum Eklat. Saftig tritt zurück.

Auf Saftig folgt Köppel, und auf Mill folgt im Saisonverlauf dann doch Zorc als Kapitän. Als Borussia Dortmund am 24. Juni 1989 mit einem 4:1 über Werder Bremen den DFB-Pokal und damit den ersten Titel seit 1966 gewinnt, ist es der gebürtige Dortmunder, der den goldenen Pokal als Erster in den Händen hält. Beim anschließenden Bankett überreicht ihm Herbert Sandmann, Verteidiger der 56er- und 57er-Meistermannschaft, seinen BVB-Ehrenring mit den Worten: „Nimm Du ihn, bei Dir ist er in besten Händen. Ihr seid Borussias Zukunft.“ Es ist der schwarzgelbe Ritterschlag. Zorc: „Das war eine ganz besondere Ehre, deren Bedeutung ich mit den Jahren erst richtig einordnen und wertschätzen konnte.“ Der Evinger geht nicht nur als längster (1988 bis 1997), sondern nach zwei Meisterschaften (1995 und 1996) sowie dem Champions-League-Sieg (1997) und eben dem Pokalsieg von ‘89 auch als erfolgreichster Kapitän in die Vereinsgeschichte ein.

Angesichts berühmter Vorgänger wie Adi Preißler, Wolfgang Paul und Aki Schmidt: Wie stolz macht Dich das?
Knapp neun Jahre lang Kapitän gewesen zu sein, in dieser erfolgreichen Zeit, hat mich mit Stolz erfüllt. Es gab sicherlich bessere Fußballer als mich. Wir hatten die Creme de la Creme des deutschen Fußballs in der Mannschaft, plus Julio César, Stéphane Chapuisat et cetera. Alles Top-Leute.

Aber dennoch warst Du 1995 und 1996 erfolgreichster Torschütze der Mannschaft. Und das als defensiver Mittelfeldspieler.
Wir hatten in beiden Meisterjahren das Problem, dass unsere Stürmer mit langwierigen Verletzungen ausfielen. Lars Ricken und Ibrahim Tanko haben uns mit ihrer jugendlichen Frische sehr geholfen, aber nicht allzu viele Tore geschossen. Ich bin da in eine offensivere Rolle geschlüpft und habe jeweils 15 Mal getroffen. Das war sicherlich die beste Phase meiner Karriere.

Trotzdem verpflichtet der Verein 1996 in Paulo Sousa einen Mann für die gleiche Position. Wie hast Du das empfunden?
In meiner jetzigen Funktion weiß ich, dass es der Lauf der Dinge ist, dass eine Mannschaft Auffrischung braucht. In der damaligen Situation hatte ich allerdings wenig Verständnis, obwohl ich schon relativ alt war, 34. Es gab den einen oder anderen Reibungspunkt mit Ottmar Hitzfeld. Heute aber ist das abgearbeitet.

Gab es damals Überlegungen, den Verein zu wechseln?
Auch wenn ich im Spätherbst der Karriere war – die Blätter fielen schon –, war ich immer noch extrem ehrgeizig, und ich habe mich mit dem einen oder anderen Angebot aus der Bundesliga und aus Japan beschäftigt. Glücklicherweise habe ich mich dazu entschieden, hier zu bleiben und bin noch Champions-League-Sieger geworden. Das war die Krönung der Karriere, auch wenn ich im Endspiel nur ein paar Minuten gespielt habe, in den Partien bis dahin aber noch voll eingebunden war.

Andreas Möller wollte in der Schlussphase unbedingt ausgewechselt werden, um Dir die Bühne zu geben. Matthias Sammer, der im Finale die Kapitänsbinde trug, musste Dich bei der Siegerehrung nachdrücklich auffordern, den Pokal entgegenzunehmen. Bei allen Egos, die diese Mannschaft prägten, waren dies auch Zeichen für die große Charakterstärke des Teams?
Heute würde man von Individualisten sprechen, früher hat man Egoisten gesagt. Wir waren in der Mannschaft nicht immer einer Meinung, aber wir waren extrem professionell, wenn es um den gemeinsamen Erfolg ging. Die Fans riefen meinen Namen, aber Ottmar hat mich zappeln lassen. Es ist doch etwas anderes, wenn man – sei es auch nur für ein paar Minuten – eingewechselt wird, als wenn man gar nicht auf dem Platz gestanden hätte.

Michael Zorc hängt noch ein letztes Jahr als Spieler dran, schießt den BVB in Tokio zum Weltpokalsieg, hat die Kapitänsbinde jedoch weitergereicht. 1998 wechselt er dann nach 572 Spielen ins Management. „In den ersten Jahren war ich Lehrling. Es fehlten Erfahrungswerte, um wirklich erfolgreich arbeiten zu können“, verrät er und fügt hinzu: „Aus heutiger Sicht hätte ich mir besser eine Auszeit und damit etwas Abstand verordnet. Es war nicht einfach, mit den Jungs umzugehen, mit denen ich keine zwei Monate vorher noch auf dem Feld gestanden, Erfolge gefeiert hatte, abends mit ihnen rausgegangen bin.“

Als die Erfahrungen dann gemacht sind, ist das Geld weg. „Als die wirtschaftliche Krise sichtbar war“, erzählt Zorc und spricht von den Jahren ab 2003, „hatte ich die Aufgabe, das Budget innerhalb von anderthalb Saisons zu halbieren. Trotzdem war die Erwartungshaltung bei den Leuten die gleiche wie an einen Champions-League-Klub. Das Stadion war weiterhin voll. Um sexy zu bleiben, wurde vieles übertüncht. Wir hatten nicht mehr die Mannschaft, um nach ganz oben zu stoßen.“ Aus heutiger Sicht und mit Blick auf andere Klubs, die nicht annähernd so große wirtschaftliche Probleme hatten wie Borussia Dortmund in jener Zeit, kann die Leistung des zwischenzeitlich zum Sportdirektor ernannten Ur-Borussen nicht hoch genug angerechnet werden. Dabei hatte Zorc „keinen einfachen Stand. Ich habe anfangs nur Einjahres-Verträge bekommen. Für mich war es von 2004 bis 2008 die schwierigste Zeit im Klub. Ich bin sehr dankbar, dass mir Aki Watzke immer den Rücken gestärkt hat.“

Wenn man dienstältester Sportdirektor im deutschen Fußball ist, 24 Jahre lang die Stellung behauptet hat, muss man jedoch vieles, sehr vieles, richtig gemacht haben. Ein Glücksgriff, vielleicht sogar der Glücksgriff, ist die Verpflichtung von Jürgen Klopp. Zorc trifft sich erstmals mit dem Mainzer Trainer im „Sheraton“ am Frankfurter Flughafen und sagt frei heraus: „Jürgen, Du bist meine letzte Patrone.“

Der Schuss sitzt. „Wir haben konsequent auf junge Leute gesetzt. Und Jürgen hat unserem Klub neues Leben eingehaucht“, erzählt Zorc und spricht von der „erfolgreichsten Dekade der Vereinsgeschichte“. Seit 2010 spielt Borussia Dortmund durchgehend europäisch, was wiederum bedeutet, dass man auch in der Bundesliga kontinuierlich oben mit dabei ist, auch in der Zeit nach Klopp, wenngleich es nach den Meisterschaften von 2011 und 2012 sowie dem Champions-League-Finale 2013 für den ganz, ganz großen Wurf nicht mehr gereicht hat. „Es ist schon schwer, nach oben zu kommen; aber da oben zu bleiben, ist noch schwieriger.“ Immerhin beendet der BVB auch die aktuelle Saison als Vizemeister, zum sechsten Mal in den zurückliegenden zehn Jahren. Auch das ist mit ein Werk von Michael Zorc.
Boris Rupert