Am 19. Dezember 1909, es ist der vierte Advent, wird der BVB gegründet. Es ist ein Sonntagabend in der ersten Etage der Gaststätte „Zum Wildschütz“ in der Oesterholzstraße 60 am Borsigplatz, und es ist die Geburtsstunde eines Fußballvereins, der heute Millionen Menschen begeistert, der weltweit Fans und Sympathisanten hat. Kein anderes Datum in der Vereinsgeschichte wirft dennoch so viele Fragen auf, kaum einen anderen Termin würden BVB-Fans gerne realitätsgetreu nachempfinden können. Zwischen 2012 und 2015 wurde die Geschichte der BVB-Vereinsgründung komplett neu recherchiert und schließlich filmisch dokumentiert. Neuere und ältere Erkenntnisse wurden verarbeitet in der Dokumentation „Am Borsigplatz geboren – Franz Jacobi und die Wiege des BVB“.

Der Dortmunder Journalist Gregor Schnittker gehörte zum Filmteam und leitete die Recherchen. Weil er dabei das journalistisch notwendige „Zwei-Quellen-Prinzip“ nicht durchweg einhalten konnte, erläutert er nachfolgend anhand von Fakten und Spekulationen zur Fußball-, Stadt- und Vereinsgeschichte die Vereinsgründung in einer Quasi-prosaischen Form. Anders gesagt: So oder so ähnlich dürfte es gewesen sein, damals, als der BVB gegründet wurde.

Perlendick steht ihm Schweiß auf der Stirn, als Kaplan Hubert Dewald die Treppe hochstürmt. Gerne wäre der 28-jährige schneller, sein untrainierter Körper aber drosselt das Tempo. Dewald schlägt der Puls nach seinem Sprint aus dem Gemeindehaus hier herüber in die Oesterholzstraße. Ein Zögling hat ihn informiert, fünf Minuten ist das gerade her, als Dewald soeben eine Zigarre am Kamin schmauchen will. Der unerwartete Bote erzählt ihm mit ängstlicher Stimme, zunächst kaum verständlich, dass einige Sodalen wenige Meter entfernt im sogenannten „Spiegelsaal“ einen Fußball-Verein gründen werden. Der Kaplan schnappt sich sofort seinen Mantel.

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Es ist der 19.12.1909, der späte Abend eines bis dahin recht normalen Sonntags am Borsigplatz. Dewald steht vor Zorn bebend im dunstig-verqualmten Flur dieses Eckhauses Oesterholzstraße 60. Er verachtet das Gebäude, weil hier ein Protestant namens Trott eine Kneipe betreibt. Dessen „Wildschütz“ besuchen die Jugendlichen der katholischen Dreifaltigkeitsgemeinde viel zu oft, anstatt sich im 1908 eingeweihten Pius-Haus zu versammeln. Vor allem Franz Jacobi, den Dewald eigentlich so mag, und der so viel Verantwortungsgefühl hat für seine Geschwister und die Mutter, treibt sich regelmäßig hier herum. Der 21-jährige hat mit der Trott’schen Tochter Lydia, genannt Lilli, angebandelt und bereitet dem Kaplan auch sonst seit Jahren Ärger, weil Franz mit seinen Freunden sonntags lieber Fußball spielt, statt den Gottesdienst zu besuchen. Im Kollektiv schwänzen sie sogar die eigens zur Eindämmung ihrer Fußball-Lust neu terminierte Nachmittagsandacht. Als Dewald wieder bei Atem ist, er kurz überlegt hat, wie er verhindern kann, was nicht zu verhindern ist, klopft er an die massive Holztür. Im Spiegelsaal wird das nicht gehört. Es scheppern Krüge aneinander, es wird laut gelacht. Mit einem kraftvollen „Was ist denn hier los?“ poltert der Kaplan schließlich unaufgefordert hinein, fliegt nur Sekunden später unfreiwillig wieder hinaus. Über einen Faustschlag gegen Hochwürden werden noch Jahrzehnte später Augenzeugen berichten und dass einige Sodalen kurz danach die Gründungsversammlung vor Schreck verlassen. Franz Jacobi wird es selbst so erzählen, 1978 in Salzgitter, als ihn ein junger, neugieriger Mann aus Dortmund namens Gerd Kolbe besuchen kommt und sich nach der Vereinsgründung erkundigt. Dieser Gerd Kolbe ist heute BVB-Archivar, und ihm ist es zu verdanken, dass Elemente der Entstehungsgeschichte aus erster Hand überliefert bleiben mit einer ganz wesentlichen Erkenntnis: Borussia Dortmund ist in seinem Ur-Knall das Produkt einer handfesten Rebellion.

1906 bereits war es konkreter geworden. Wer 1909 als BVB-Geburtsstunde sieht, und das völlig zu Recht, wird hier von der Zeugung sprechen und liegt mit der Metapher nicht verkehrt. Franz Jacobi und Reinhold Richter sind dabei die Hauptakteure, weil der Zufall es will, dass sie sich kennenlernen. Reinhold Richter, 1886 in Gröden bei Dresden geboren, ist schon in jungen Jahren viel unterwegs. Er reist als Kellner durch Europa, durch Nordafrika und Palästina. Richter lernt in dieser Zeit, unter anderem auch in London, einen jungen Sport kennen, der ihn auf Anhieb fasziniert: Fußball. In England, so erzählt es Franz Jacobi später Gerd Kolbe, habe Richter erfahren, dass in der Bierstadt Dortmund eine Gastronomie zu verpachten sei, der sogenannte „Wildschütz“. Dieser Tipp lässt Richter ins Ruhrgebiet reisen, noch 1906 zum Borsigplatz, mit einem Fußball im Gepäck und großer Hoffnung auf eine eigene Gastronomie.

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In der Oesterholzstraße 60 aber gibt es für Reinhold Richter schlechte Kunde, denn der „Wildschütz“ ist eben doch nicht zu verpachten. Andererseits lernt er Franz Jacobi kennen, wie auch dessen Freund Heinrich Unger. Jacobi, der 18-jährige Hoesch-Hüttenbeamte, wird in späteren Jahren Wirtshaus-Tochter Lilly heiraten, sitzt aber jetzt schon gerne an den Tischen bei Heinrich Trott. Richter und Jacobi sind sich auf Anhieb sympathisch, werden zeitlebens in Kontakt bleiben und in vielen vertrauten Stunden über die Borussia sprechen, denn nicht nur in ihrer ersten Begegnung ist Fußball das zentrale Thema. Jacobi, bislang vor allem Leichtathlet, ist hocherfreut, dass ihm Richter zum Abschied ein edles Sportgerät schenkt. Mit einem echten englischen Lederball in der Hand bringt Franz Jacobi seinen Freund Reinhold Richter zur Straßenbahn, geht dann zufrieden nach Hause in die Wambeler Straße. Seine Mutter Susanna hat in der Wohnstube das Klappbett schon bereitet, wohlwissend, dass ihr Ältester spät nach Hause kommt und dann möglicherweise nicht mehr jeder Handgriff geräuschlos sitzt.

In diesen Dezembertagen 1909 ist es außergewöhnlich kalt in Dortmund. Schon Mitte November hat es geschneit, kommt der Bahnverkehr zum Erliegen. 200.000 Menschen leben inzwischen in der Stadt, die in diesen Jahren permanent wächst, gerade im Norden. Es ist die Zeit der Zuwanderer, denn die aufstrebenden Industrien locken Arbeiter an. Noch 1907 hat es eine Volkszählung gegeben mit dem Ergebnis, dass drei Fünftel der Einwohner nicht an gleicher Stelle geboren sind. Insofern ist Familie Jacobi fast alteingesessen, seit 27 Jahren in Dortmund gemeldet, und alle Kinder kommen hier zur Welt. An diesem Sonntagnachmittag ist es voll der Küche in der Wambeler Straße 12, der ersten Etage eines frisch gebauten Mehrfamilienhauses, gut 100 Meter vom Borsigplatz entfernt. Die Jacobi-Kinder erwarten Besuch. Draußen fährt ein Pferdefuhrwerk Richtung Brügmanns‘ Hölzchen, sorgt für Lärm auf dem Kopfsteinpflaster, gleichermaßen ist das Geschrei einer polnischen Nachbarin zu hören, die ihre spielenden Kinder zum Baden hereinruft. Es duftet nach Plätzchen, aufgebrühtem Kaffee und dem Stärkungsmittel frisch gebügelter Hemden.

Seit der Vater gestorben ist, 1902 mit nur 44 Jahren, geht Franz als Ältester mit seinen 18 Jahren der Mutter zur Hand. Susanna, die französischen Ursprungs ist, war 1882 mit ihrem Mann Wilhelm aus der Eifel hergezogen. Als Fabrikarbeiter hat der Vater auch in der „Borussia-Brauerei sein Geld verdient, wechselt aber immer wieder die Anstellung. Es sind sowieso unruhige Zeiten für Familie Jacobi, die insgesamt siebenmal umzieht im Laufe ihrer ersten 20 Jahren in Dortmund und erst hier in der Wambeler Straße ausreichend Platz findet für die fünf Söhne und eine Tochter: Franz (1888), Willi (1890), Julius (1893), Peter (1894), Josef (1896) und Magdalena (1898). Dabei ist Josef später nicht nur ein hervorragender Fußballer des frühen BVB, sondern zeitlebens mit einem unpräzisen Pass-Dokument unterwegs. Anders als ausgewiesen ist er nicht am 27.11.1896 geboren, sondern einen Tag zuvor. Als sein Vater Wilhelm aber vergegenwärtigt, dass statt der erhofften ersten Tochter ein fünfter Sohn in der Wiege liegt, ist er so frustriert, dass er noch am gleichen Tag „das Baby pinkeln lässt“ und zwar so ausufernd, dass Papa Jacobi den notwendigen Behördengang verschiebt.

Spät am Abend verspricht Wilhelm, nun fröhlich gestimmt, seiner Susanna, Versäumtes nachzuholen, kommt am nächsten Tag aber mit dem Datum durcheinander. Fast exakt zwei Jahre später wird er sich doch noch über eine Tochter freuen und sie korrekt anmelden: Magdalena, am 19.12.1898 geboren, also an einem, wie sich elf Jahre später zeigen wird, besonderen Datum, dem späteren Wiegenfest des BVB. Jetzt aber, am 18.12.1909, freut sich Nesthäkchen Lenchen nicht nur auf ihren morgigen Geburtstag, sondern auch über das Stück vom Christ-Stollen auf ihrem Teller. Dass in wenigen Augenblicken ihr späterer Ehemann (Hochzeit 1930) eintreten wird, ahnt sie nicht, und es wäre ihr mutmaßlich egal. Lenchen ist die dampfend-heiße Schokolade im Becher unendlich viel wichtiger als jede zukünftige Liaison mit irgendeinem Reinhold.

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Als es klopft, springt Franz als erster auf und öffnet seinem Freund die Tür. Viele Ansichtskarten haben sie von Reinhold Richter erhalten, von den unterschiedlichsten Orten der Welt. Am Glas des Küchenschranks hängen Motive des Genfer Hotels Beau Sejour und des Hotels Bellevue im französischen Menton. Einen Winter lang, 1907/08, hat der umtriebige Richter sogar in Ägypten gearbeitet, im Grand Hotel Heloun als Sommelier, als Experte für Wein. Angekündigt hat sich der inzwischen 23-jährige zuletzt aus Paris. Im Laufe des Abends wird er das Arbeitszeugnis aus der Tasche ziehen mit besten Noten für seine Tätigkeit im Hotel Majestic. Von dort ist Richter per Nord-Express angereist, eine West-Ost-Verbindung in einem mondänen Zug von Paris nach Sankt Petersburg, der Richter in einer Tagesreise nach Dortmund bringt.

In der Jacobi-Küche sind alle begeistert über den Gast und von dem, was er erzählt, wobei auch die befreundeten Heinrich Cleve, Johann Siebold, Heinrich und Robert Unger gekommen sind, um diesen Weltmann am Borsigplatz zu begrüßen. Erst als Richter fragt: „Gibt es eigentlich noch den Lederball, den ich Euch vor drei Jahren aus England mitbrachte?“, kippt die Stimmung. Kaplan Hubert Dewald ist nicht im Raum und augenblicklich doch gegenwärtig. Vor allem Heinrich Unger und Franz Jacobi reden sich in Rage. Gerade die beiden haben inzwischen und zwar durchweg den größten Ärger mit dem Geistlichen. Dewald sieht in ihnen die Anführer jener Sodalen, die sonntags lieber Fußball spielen anstelle von Kirchgang und Besinnung. Der Kaplan hat deshalb noch eine weitere Andacht angesetzt für den Sonntag-Nachmittag, um das von ihm so verpönte Fußballspiel auf der Wiese an der Kirchderner Straße zu verhindern. Zudem hat er bei den Sodalitätsversammlungen am Dienstag und Donnerstag eindringlich den Besuch angemahnt. Aber damit nicht genug: Auch in den Predigten thematisiert der Geistliche das Fußballspielen, kritisiert von der Kanzel namentlich die Anhänger des für ihn „rohen und wilden Spiels“ und bewertet deren Verhalten als offene Rebellion. Reinhold Richter hört es sich an, atmet durch, schaut in die Runde und sagt „Gründet doch einen Verein!“

Schon nach wenigen Minuten ist der Raum verqualmt. Rund 50 junge Männer sitzen an Holztischen im ersten Geschoss des Wildschützes im sogenannten Spiegelsaal, einem Gesellschaftsraum, in dem ansonsten Hochzeiten gefeiert werden oder Geburtstage. Die meisten sind im Sonntags-Anzug erschienen, reden aufgeregt miteinander, rauchen nahezu permanent und trinken Bier. Einige von ihnen haben noch arbeiten müssen, kennen als Jungbergleute und Stahlarbeiter weder Acht-Stunden-Tag noch freies Wochenende. Andere dagegen hatten heute Zeit gefunden, nach Kirchgang und Mittagessen, für ein Fußballspiel, die Andacht am Nachmittag schwänzend, haben dabei diesen Reinhold Richter kennengelernt, von dem Franz Jacobi stets so schwärmt. Mit dessen neuen Lederball spielten sie bis zur Dämmerung, wissend, dass noch mehr passieren wird an diesem vierten Advent, denn Franz Jacobi  und Heinrich Unger haben mit eindringlichen Worten eingeladen auf ein Bier „beim Trott“, wie sie ihren Treffpunkt üblicherweise nennen.

Es ist der 19.12.1909, kurz nach 19 Uhr, als Franz Jacobi um Ruhe bittet und den Anwesenden noch einmal Reinhold Richter vorstellt, der das Amt des Schriftführers übernimmt. Dann kommt Jacobi direkt zum Punkt, erläutert die beabsichtigte Vereinsgründung und schildert seine Sicht auf den Konflikt mit dem Kaplan. „Seit 1902 bin ich Mitglied der Dreifaltigkeitsjugend. Seit 1906 spielen wir Fußball auf der Weißen Wiese. Wir Fußballer werden aber seit 1906 systematisch von unserer Kirche bekämpft und diffamiert. Das können wir nicht länger hinnehmen. Die Vereinsgründung ist zwingend.“ (Das Zitat stammt aus dem Treffen 1978 von Jacobi und Kolbe) Für seine Worte erhält er viel Applaus, einige klopfen auf den Tisch, andere rufen „Jawohl“. Es gibt zustimmendes Nicken.

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Einige Anwesenden aber trinken hastig aus und verlassen fluchtartig den Raum. Der endgültige Bruch mit der Kirche geht ihnen zu weit, und nichts anderes zeichnet sich gerade ab. Dass eine Vereinsgründung den Ärger eskalieren lassen wird, scheint allen sofort klar. Nun muss jeder für sich entscheiden, ob er den Weg mitgeht, wobei sich nur wenige Minuten später die Dimension der Rebellion real zeigt. Der von den ersten Abtrünnigen alarmierte Dewald steht in der Tür, wird erkannt und zurückgedrängt und schließlich geschlagen. Die Situation wirkt unbeherrschbar, eine solche Zuspitzung hat niemand erwartet. Insofern überrascht es nicht, dass sich die Gruppe der Verbliebenen nochmal verkleinert. Von ursprünglich 50 Fußballern sind nur noch Reinhold Richter und 18 Sodalen übrig. Diese werden von ihm namentlich als Vereinsgründer protokolliert: Franz Braun, Paul Braun, Heinrich Cleve, Hans Debest, Paul Dziendziella, Franz Jacobi, Julius Jacobi, Wilhelm Jacobi, Hans Kahn, Gustav Müller, Franz Risse, Fritz Schulte, Hans Siebold, August Tönnesmann, Heinrich Unger, Robert Unger, Fritz Weber und Franz Wendt.

Nachdem für die Jugendlichen der Jünglingssodalität zunächst die religiöse Erziehung, Beteiligung am kirchlichen Leben wie auch das Musizieren und Theaterspielen im Vordergrund stehen, kommt 1906 der Sport dazu, nämlich das Turnen und die Leichtathletik. Dafür steht ein städtischer Sportplatz zur Verfügung mit Laufbahn und Sprunggrube, die sogenannte „Weiße Wiese“. Auch 1906 übernimmt Kaplan Hubert Dewald die Jünglingssodalität, zudem erreicht, wie beschrieben, ein erster Fußball den Borsigplatz. Dabei handelt es sich um ein ideales Sportgerät für die Jacobi-Brüder und ihre Freunde, weil es keiner weiteren Vorbereitungen bedarf, um kurzentschlossen auf einer der vielen Wiesen am Rande des Hoeschviertels zu kicken, wenn es der Schul- und Arbeitsalltag zulässt – und der Terminplan der Sodalität. Der Kaplan dagegen lehnt das Fußballspielen von Beginn an ab und bringt es deutlich zum Ausdruck. So entsteht ein Konflikt, der sich bis 1909 zunehmend verschärft, als der Kaplan seinen Sodalen sogar den Besuch des Wirtshauses „Zum Wildschütz“ verbietet mit Hinweis auf das neue Pius-Haus. Seine Sodalen halten sich nicht daran und verdächtigen wiederum Dewald, dass er ihre Tore zerstört hat, die eines Tages abgesägt auf der Weißen Wiese liegen. All das gehört zur Vorgeschichte des für die Fußballstadt Dortmund bedeutsamen, weil folgenreichen Konflikts.

Die Gründer wohnen, laut der bis heute einsehbaren Unterlagen des Melderegisters, alle in unmittelbarer Nähe des Gründungsorts. Sie sind in etwa gleich alt, nämlich allesamt geboren zwischen 1888 und 1893, im Durchschnitt also etwa 18 Jahre alt an diesem 19.12.1909. Zum Vorsitzenden wählen sie den von Franz Jacobi vorgeschlagenen Heinrich Unger, machen Jacobi selbst zum Kassierer und Geschäftsführer. Und der wirkt plötzlich nachdenklich, kratzt sich am Kopf und scheint fast verzweifelt. „Und wie heißt unser Verein? Was geben wir uns für einen Namen?“

Als sich Gerd Kolbe bei Franz Jacobi nach den Gründen für den Namen „Borussia“ erkundigt, antwortet dieser: „Als wir bei Trott die Formalitäten über die Vereinsgründung besprachen, fiel uns auf, dass wir noch gar nicht an einen Namen für unseren Klub gedacht hatten. Ich sah mich eigentlich mehr zufällig im Trott’schen Gesellschaftszimmer um und bemerkte an den Wänden große Bilder der Borussia Brauerei, die bei uns in der Nähe in der Steigerstraße bis 1902 bestanden hatte. Dieses Bier war damals auch bei Heinrich Trott im Ausschank gewesen. Den Namen Borussia fand ich gut und nannte ihn ganz spontan. Er fand allgemeinen Anklang. Dies auch bei meinen Brüdern, die ja ebenfalls zu den Vereinsgründern gehörten. Sie sagten mir später, dass sie auch deshalb mit dem Namen einverstanden gewesen waren, weil unser früh verstorbener Vater zeitweise bei der Borussia-Brauerei beschäftigt war und sie meinten, ihm auf diesem Weg indirekt ein kleines Familiendenkmal gesetzt zu haben.“

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Die Empörung von Kaplan Dewald über das, was seine Sodalen getan haben ist groß. Vier Tage später nutzt er die Predigt an Heiligabend in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche, um die Gründer heftig zu kritisieren und verkündet die Strafe. Wegen vermeintlicher Gemeindespaltung werden die 18 Rebellen aus der Sodalität geworfen. Für einige ist der Druck nicht mehr auszuhalten, auch nicht jene Kritik aus den eigenen Familien, so dass sie den wenige Tage alten Verein direkt wieder verlassen und zurückkehren in die Arme der Gemeinde. Franz Jacobi berichtet es 1978 so: „Einige von uns, so vier oder fünf, ließen sich durch Familie und Kirche einschüchtern und kehrten den Borussen wieder den Rücken, um zur Jünglingssodalität zurückzukehren. Das war auch für mich hart, war ich doch schon 1902 als 14-Jähriger in die Sodalität eingetreten.“

Obwohl der Verein im Wochenbett nahezu ein Drittel seiner Mitglieder verliert, bleibt er existent. Auf der Weißen Wiese jagen die Jungs um Jacobi und Unger dem Ball hinterher, soweit es die Witterung zulässt. Sie lieben ihren improvisierten Platz, diese holprige Wiese inmitten der Kartoffel- und Kornfelder von Bauer Wübbeke. Die frühen Borussen, so dokumentiert es die Jubiläumsschrift zum 50. Geburtstag, zimmern sich transportable Tore „aus Kanthölzern und Querlatten“. Sie nehmen an Blitz-Turnieren teil und spielen gegen Nachbarklubs wie Rhenania, Deutsche Flagge und Britannia. Zum Umziehen, wie auch zur Bewirtung des Schiedsrichters mit Kaffee und Gebäck, nutzt der BVB die Kellerräume im Wildschütz, wo es ein langgezogenes Waschbecken gibt. Von dort aus sind es einige hundert Meter in nordöstliche Richtung bis zum Platz, wobei die Distanz zum Warmlaufen genutzt wird, denn auch das Laufen ohne Ball macht ihnen viel Freude. Von Beginn an ist es eine Selbstverpflichtung der Borussen, auch an Leichtathletik-Wettkämpfen teilzunehmen.

So wird Franz Jacobi im August 1910 als Sprinter der Borussia in der Zeitung „Körper und Geist“ erwähnt, findet der BVB an gleicher Stelle mehrfach Erwähnung mit der Teilnahme seiner Athleten an den sogenannten Sedan-Spielen oder der „Castroper Olympiade“. Besonders erfolgreich und über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist Borussias 4x100 Meter Sprintstaffel, wie Franz Jacobi gegenüber Gerd Kolbe betont: „Heinz und Robert Unger, dann Wienke und ich als Schlussläufer. Vor dem Rennen haben wir uns immer die Preise ausgesucht und danach unsere Platzierungen bestimmt.“

Dabei treten die Borussen, ob Leichtathletik oder Fußball, in blau-weißen Trikots an, welche sie noch aus ihrer Zeit bei der Jünglingssodalität besitzen. Sie „veredeln“ ihr Auftreten mit schwarzen Hosen und einer roten Schärpe. Ob dieser schmale Stoffumhang als übliches Sport-Accessoire jener Tage, etwa einer Turnriege, aus Solidarität mit der Arbeiterbewegung, vielleicht sogar aus Protest gegen die Kirche verwendet wird, lässt sich heute nicht abschließend recherchieren. Mutmaßlich dürfte das optische Erscheinungsbild dem Kaplan aber zusätzlich missfallen, weil „seine Abtrünnigen“ ausgerechnet in den Hemden der Kirche Fußball spielen. Fakt ist, dass die Zeugwartin, bereits erwähnte Maria Risse, verheiratet mit Gründer Willi Jacobi, ihre liebe Mühe hat mit der Kluft. Ihre Nachkommen, Familie Heilscher aus Dortmund-Körne, berichten von einer Anekdote, die bei Familienfeiern erzählt wurde. Demnach hat Maria, 1983 im biblischen Alter von 91 Jahren gestorben, bisweilen geflucht, weil sie die ersten Trikots nicht richtig sauber bekam. Zudem hätten die blau-weißen Hemden durch die Wäsche ihre Farbe verloren. Die Fußballer ihrerseits kämpfen während des Spiels mit den locker umgehängten Schärpen, weil diese verrutschen oder bei Laufen über den Kopf fliegen. Vielleicht sind die Probleme mit Blau-Weiß auch schlicht ein Fingerzeig der Fußballgeschichte.

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Deprimiert geht Franz Jacobi nach Hause, die Zahl 13 schwirrt ihm durch den Kopf, und er fragt sich, wie lange es die Borussen noch geben wird. Es ist spät geworden. Im Geschäftszimmer des BVB, in einem Raum hinter dem Wildschütz, hat er Unterlagen sortiert und Spielberichte abgeheftet. Im Frühjahr 1910 ist es schwierig geworden, eine Mannschaft zu stellen, weil zu wenige Mitglieder verblieben sind. Kurzum: Der BVB steht vor dem Aus. Als Jacobi am Haus Herzog vorbeikommt, dem Vereinslokal von Britannia am Borsigplatz direkt gegenüber vom Concordia-Haus, hat er eine Idee. „Mit einer Fusion könnte es weitergehen“, so der spontane Gedanke. 68 Jahre später erinnert sich Franz Jacob gegenüber Gerd Kolbe: „1910 betrug Borussias Mitgliederzahl nur noch 13 Figuren. Erst durch das Hinzustoßen von Rhenania und Britannia kamen wir auf vierzig Mitglieder. Fast wären auch die ,Deutsche Flagge’, gegen die wir als wilder Verein ebenso wie gegen Rhenania und Britannia immer schon gespielt hatten, zu uns gekommen. Doch das wollten wir damals nicht.”

Dank der Neuen wächst der BVB mit einem Schlag auf 40 Mitglieder, darunter zahlreiche gute Fußballer um Anführer August Busse. Busse und Jacobi kennen sich aus früher Kindheit, weil die Familien einander gegenüberwohnen, nur wenige Meter, aber konfessionell voneinander getrennt. Busse, Jahrgang 1890 ist evangelisch, macht eine Ausbildung als Schlosser bei Hoesch, arbeitet später auf Zeche Kaiserstuhl und spielt Fußball bei Britannia, in einem dieser wilden Vereine. Jacobi und sein Vater sind keine engen Freunde gewesen, berichtet Busses‘ Sohn Gerhard. Ihr Umgang sei von Respekt geprägt gewesen, sowohl auf dem Fußballplatz als auch in Vereinsangelegenheiten, wobei auch August Busse von Franz Jacobi profitiert habe.

Gerhard Busse erinnert sich an den Wunsch des Vaters, in den WSV aufgenommen zu werden, was just 1910 gescheitert war. Dank guter Kontakte von Franz Jacobi als Funktionär scheint sich nun eine neue Chance aufzutun. Busse gliedert sich mit seinen Fußballern ein, was nicht die einzige Veränderung ist im jungen BVB, so Franz Jacobi: Ebenfalls 1910 legte dann Heinrich Unger den Vorsitz nieder, weil er Dortmund verließ. Für sechs Wochen nahm Franz Risse die Aufgaben kommissarisch wahr, dann wurde ich zum BVB-Präsidenten gewählt.” Dass Heinrich Unger schon nach kurzer Zeit als Präsident zurücktritt, dürfte an seiner wenig fußballbegeisterten Ehefrau Hedwig liegen, gleichermaßen ziehen die Ungers für einige Jahre aus Dortmund weg. Es ist die Zeit, als eine andere Freundschaft, die Jacobi pflegt, dem BVB sehr dienlich wird: sein guter Draht zu Walter Sanß.

Mist. Wie ärgerlich.“ – „Warum schimpfen Sie?“ – „Ich habe meine Sportschuhe vergessen!“ Als sich Walter Sanß bereits von diesem Wettlauf in Castrop abmelden möchte, hält ihm jemand Schuhe hin. „Dann nehmen Sie doch meine“, sagt Franz Jacobi, den Sanß bislang nur als Rivale im Sprint kennengelernt hatte. „Danke, das ist nett. Gerne!“ Diese faire Geste begründet die tiefe Freundschaft zwischen Franz Jacobi und Walter Sanß. Letzterer, von Beruf Buchhalter, kann sich Fehler kaum verzeihen, ist er ansonsten doch überaus korrekt. Sanß ist Vorsitzender des DFC 95, arbeitet als Schriftführer beim DFB, ist deren Geschäftsführer und als Schiedsrichter auch international angesehen. Sanß führt 1912 in Stockholm bei den Olympischen Spielen die deutsche Fußball-Delegation an. Er ist ein Fußball-Pionier, ein Tausendsassa, und hat doch auch, wie Franz Jacobi, eine zweite große Liebe: die Leichtathletik.

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1910 wird es dem Westdeutschen Spielverband zu viel. Das Reichsvereinsgesetz von 1908 hatte Vereinsgründungen erleichtert, allerorts waren Klubs entstanden, die eine WSV-Mitgliedschaft anstrebten. Längst ist die Lage chaotisch, der WSV verhängt einen Aufnahmestopp, so dass sich auch für den wiedererstarkten BVB die Tür schließt.

Wie schon im Frühjahr geht Franz Jacobi nachdenklich nach Hause. Die ersehnte Austragung offizieller Spiele, der Status eines „richtigen Vereins“, all das scheint jetzt unendlich weit weg. Aus einem offenen Fenster hört er Babygeschrei. Die Säuglingssterblichkeit rund um den Borsigplatz ist deutlich höher als in anderen Großstädten. Wegen Mangelernährung und schlechter Luft überleben viele Kinder ihr erstes Jahr nicht. Franz Jacobi sieht die Analogie zum BVB, als ihm Walter Sanß in den Sinn kommt und er beschließt, diesen um Rat zu bitten. Und siehe da: Sanß ist froh, als ihn sein Freund mit einigen anderen Borussen im DFB-Büro besucht. Er gibt ihnen den Tipp, zunächst mit der Leichtathletik-Abteilung Verbandszugehörigkeit zu beantragen, um dann mit den Fußballern nachzuziehen. Franz Jacobi erinnert sich so an das damalige Procedere: „Ja, die Leichtathleten waren unser trojanisches Pferd. Wir sind schon in der Dreifaltigkeitsgemeinde als gute Sprinter und Staffelläufer bekannt geworden. Ich war in der Tat der Schnellste der damaligen Zeit in unserer Gruppe. Selbst Karl Wienke, der auf der Zeche Kaiserstuhl arbeitete, konnte mich nicht schlagen. Ende 1910 gelang es uns, auch mit der Fußballabteilung in den Westdeutschen Spielverband zu gelangen. Ich erinnere mich gut an den 3. Dezember 1910. Karl Wienke und ich waren vom Verband in die ‚Krone‘ am Alten Markt eingeladen worden. Walter Sanß, das wussten wir, war einmal mehr unser Fürsprecher. Dann gegen 21:30 Uhr, der erlösende Augenblick. Sanß kam freudestrahlend auf uns zu und sagte: ‚So Freunde, jetzt habt Ihr es geschafft!‘“

Am 15.01.1911 findet das erste offizielle Spiel auf der Weißen Wiese statt. Die Borussen gewinnen 9:3 gegen den VfB und haben extra einen Fotografen bestellt, der das Ereignis dokumentiert. Mit den Fotos gehen sie zum Gemeindehaus, nageln die Motive an den Türrahmen. Ihren Triumph im Streit mit dem Kaplan führen sie diesem noch einmal vor Augen, den Zeitungsbericht über das Spiel studieren sie, bis sie den kurzen Text auswendig können. In den nächsten Wochen und Monaten folgen weitere Siege bei sogenannte „Gesellschaftsspielen“, womit Begegnungen in Freundschaft gemeint sind. Zum offiziellen Spielbetrieb wird der BVB mit der Saison 1911/12 zugelassen, gewinnt am 10.09.1911 auch zum Auftakt in der C-Klasse, der untersten Liga, mit 1:0 gegen den Turnerbund Rauxel. Am Ende wird die Borussia Meister, steigt in die B-Klasse auf, wo zahlreiche Duelle gegen Nachbarvereine anstehen, wie etwa gegen Lütgendortmund, Merkur oder die Sportvereinigung 95. Nach einem Jahr Durchatmen gelingt 1913/14 der Aufstieg in die A-Klasse.

Gejubelt wird bereits in Zitronengelb, denn der BVB spielt weiterhin mit schwarzen Hosen, nun aber in gelben Hemden, trägt damit die schönste Farbkombination der Welt.
Autor: Gregor Schnittker