Er hat für den BVB gewirbelt, als der Liter Sprit noch 70 Pfennig gekostet hat: Erdal Keser. In diesem Jahr wird er 60. Pokale und Titel hat er mit Borussia nicht gewonnen, dafür nahm er vor wenigen Wochen eine ganz besondere Auszeichnung entgegen: die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben den früheren Mittelfeldstar getroffen und in seinen schwarzgelben Erinnerungen gekramt. 

Wenn Erdal Keser auf dem Rasen zu Hochform auflief, ging regelmäßig die eine oder andere Augenbraue in die Höhe. Der flinke Offensiv-Allrounder war ein fußballerischer Herz-Kreislauf-Beschleuniger. Ein echter Adrenalinproduzierer, der seine Gegenspieler nicht selten wie Aschenputtel aussehen ließ. Titel hat Keser mit der Borussia zwar keine gewonnen, schwarzgelbe Geschichte hat er dennoch geschrieben: Er war der erste türkische Fußballprofi bei Borussia Dortmund. Zwischen 1980 und 1987 hat er in fünf Spielzeiten 30 Tore in 116 Pflichtspielen für den BVB erzielt.  

Beeindruckende Zahlen, die alleine aber nicht ausreichen, um sein Wirken zu beschreiben. Das vermag ein Ereignis viel besser, das erst wenige Wochen zurückliegt und weshalb unsere Rubrik diesmal eigentlich „Helden von gestern und heute“ heißen müsste. Ursprünglich hätte Erdal Keser Anfang des Jahres von unserem Bundespräsidenten persönlich geehrt werden sollen, doch durch die Corona-Pandemie fand die Zeremonie erst im September im Hagener Rathaus statt. Dort wurde Keser eine der größten Anerkennungen zuteil, die unser Land bereithält: Oberbürgermeister Erik Schulz überreichte Erdal Keser im Beisein des Kreisvorsitzenden Peter Alexander und des türkischen Generalkonsuls Sener Cebeci und stellvertretend für Dr. Frank-Walter Steinmeier in Anerkennung seines sozialen Engagements die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.  

„Für Hagen ist er vor allem eine Kombination aus einem sportlichen Vorbild als einer der Großen vom BVB, der aber nach Ende seiner Spielerkarriere vor allem gezeigt hat, dass Verantwortung für Menschen, die im öffentlichen Rampenlicht stehen, nicht aufhört, wenn die Karriere zu Ende ist. Das hat er in vorbildlicher Weise gezeigt. Er ist ein perfekter Brückenbauer zwischen den Kulturen“, würdigte Hagens Oberbürgermeister Schulz die Verdienste Kesers. 

„Das ist eine sehr, sehr große Ehre für das, was ich in den letzten zwanzig Jahren mit meinem sozialen Engagement für kranke Kinder in Deutschland getan habe“, so der Ausgezeichnete: „Und dass das auch noch von der höchsten Stelle in Deutschland anerkannt wird, macht mich natürlich sehr stolz und motiviert mich, auch in Zukunft für die kranken Kinder alles zu geben, damit es ihnen eines Tages doch hoffentlich besser geht.“ 

Kesers Nichte Jessy leidet am Rett-Syndrom, einer Krankheit, die nur Mädchen trifft. Diese neurologische Störung des Gehirns hat fatale Auswirkungen auf die Motorik, und der Weg führt in den meisten Fällen in den Rollstuhl. Weil die Krankheit so selten auftritt, ist sie nur unzureichend erforscht und daher auch kaum therapierbar. Seit 2002 ist Keser Schirmherr der Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom und hat mit zahlreichen Benefizveranstaltungen bereits über 200.000 Euro eingesammelt, um diesem Missstand zu begegnen. 

„Die Pharmaindustrie hat aufgrund der Seltenheit der Krankheit leider kein großes Interesse daran“, kommentiert Keser die traurige Wahrheit so trocken, dass man Durst kriegt. „Also müssen wir Privatpersonen dafür sorgen, dass diese Krankheit eines Tages besser bekämpft werden kann.“ Während bei vielen Menschen Spendenanfragen vom Gipfel der Beliebtheit weit entfernt sind, kann sich Keser der großen Hilfsbereitschaft seiner Mitstreiter sicher sein. „Wenn es um kranke Kinder geht, hilft jeder gerne. Früher habe ich mit meinen ehemaligen Kollegen Benefiz-Fußballspiele organisiert. Weil das in unserem Alter heute nicht mehr so gut funktioniert, machen wir das jetzt im Golfsport.“ 

Es ist mittlerweile die einzige Tätigkeit, die der einstige Tausendsassa in seinem Ruhestand noch verfolgt. „Nach über 35 Jahren im Profigeschäft ist es jetzt an der Zeit, alles mal sacken zu lassen und das Leben zu genießen“, erklärt der Familienmensch und trifft damit bei seiner Frau Iris voll ins Schwarze. Die war ihm vor 43 Jahren in Hagen im Linienbus auf dem Weg zum Training beim SSV Hagen erstmals aufgefallen. Wenig später hat er sie in einer Disko wiedergesehen und angesprochen. Mittlerweile sind ihre beiden Kinder, Dennis und Vanessa, längst erwachsen und haben Erdal und Iris bereits zwei Enkel geschenkt.

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Als er zehn Jahre alt war, kam Erdal mit seiner Familie nach Deutschland. Das war 1971. Der Junge hat in Hagen sein Abitur gemacht – und ist bis heute in der Stadt, die im Norden an Dortmund grenzt, wohnen geblieben. Dass er gut kicken konnte, half ihm bei der Integration. „Ich habe anfangs kein Wort Deutsch gesprochen. Und damals gab es hier noch nicht so viele Landsleute, also musste ich so schnell wie möglich Deutsch lernen. Beim SSV Hagen wurde ich auch schnell in die Gemeinschaft aufgenommen, weil ich fußballerisch so begabt war.“ Dieses Talent blieb natürlich auch dem BVB nicht verborgen, der Keser 1980 in seine Jugend lotste. „Damals hatte fast die halbe A-Jugend die Möglichkeit, mit den Profis mit zu trainieren, was heute unvorstellbar ist. Aber wir hatten damals einen halben Nationalmannschaftskader in der A-Jugend.“ 

In der Tat profitierte der BVB in der Zeit nach dem Wiederaufstieg davon, viele eigene Talente – wie Eike Immel, Michael Zorc, Ralf Loose, Theo Schneider, Ralf Augustin oder eben auch Erdal Keser – ins Profiteam integrieren zu können. Bis zu Erdals erstem Bundesligaeinsatz aber sollte es bis zum 21. Spieltag der Saison 1981/82 dauern. Am 14. Februar 1982 war es dann soweit. Beim 2:2 gegen Fortuna Düsseldorf durfte er als 19-Jähriger im Rheinstadion erstmals für die Profis ran und stand als Stürmer gleich in der Startelf. 

Es folgten weitere Kurzeinsätze, bis er in seinem fünften Bundesligaspiel am 30. Spieltag beim 1:0 über den 1. FC Nürnberg auch seinen ersten Sieg feiern konnte. „Bei Auswärtsspielen gab es immer mal wieder Ausländer-raus!-Rufe. Das war damals – leider – ganz normal, und es hat sich niemand daran gestört. Das hat mich aber nur noch mehr motiviert. Und bei den eigenen Fans war ich durchaus beliebt“, sagt Keser über seine Anfänge.

„Erdal hatte sehr viele Qualitäten. Er war schnell und hatte einen unglaublich platzierten Schuss.“

Am Ende standen nach seiner ersten Profisaison sieben Bundesligaspiele in den Annalen, aber noch kein Tor. Das sollte sich in seiner zweiten Spielzeit ändern. Zwar wurde er in der Vorrunde nur zweimal eingewechselt, doch in der Winterpause konnte er Trainer Udo Lattek vollends überzeugen und war mit Beginn der Rückrunde Stammspieler. Damals durften pro Team nur zwei Ausländer eingesetzt werden. Umso bemerkenswerter, dass sich der junge Erdal einen der beiden Plätze geschnappt hatte. Und dann kam am 20. Spieltag das Spiel gegen den damals noch großen HSV, das für Erdal aus zweierlei Hinsicht zu einem unvergesslichen Highlight wurde. Zum einen, weil er den BVB in der 17. Minute mit seinem ersten Bundesligator in Führung bringen konnte. Und zum anderen wegen einer kleinen Majestätsbeleidigung. „Kaiser“ Franz Beckenbauer spielte seine Abschiedssaison, und bei einem Duell im Mittelfeld bekam er von Erdal Keser einen Tunnel verpasst. „Der Franz hat das ganz locker genommen. Er hat immer akzeptiert, wenn einer etwas Gutes mit dem Ball gemacht hat, und er wusste, dass ich das nicht gemacht hatte, um ihn bloßzustellen, sondern weil es in dem Moment der einzige direkte Weg in Richtung HSV-Tor für mich war. Wir haben auch heute noch einen freundschaftlichen Kontakt“, sagt Keser über dieses Kabinettstückchen. 

Für Rüdiger Abramczik, mit dem Erdal heute noch gut befreundet ist, kam diese Szene nicht überraschend: „Mir ist gleich zu Beginn aufgefallen, dass er ein frecher Hund war, der wusste, wie man sich durchbeißt. Und Erdal hatte sehr viele Qualitäten. Er war schnell, hatte einen unglaublich platzierten Schuss und konnte sich somit relativ schnell in der ersten Mannschaft etablieren.“ Diese Stärken in Verbindung mit seiner Unbekümmertheit und der engagierten Spielweise machten ihn nicht nur zu einem Publikumsliebling, sondern auch auf vielen Positionen in Mittelfeld und Angriff einsetzbar. Und nachdem er erst einmal Fuß gefasst hatte, avancierte Erdal Keser schnell zu einem unverzichtbaren Schwungrad, Antreiber und Erfolgsgaranten.  

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„Wie hätte ich denn sonst bestehen sollen gegen solche Haudegen wie damals Rüdiger Abramczik, Manni Burgsmüller oder Lothar Huber?“, kontert Keser die Behauptung, er sei „frech“ gewesen. „Wenn ich an sensible Fußballer von heute denke – die hätten es ohne diese Verbissenheit, ohne frech zu sein, schwer gehabt, sich gegen diese echten Ruhrpott-Jungs durchzusetzen. Die kamen ja noch vom Hinterhof. Da wurde ganz anders trainiert“, meint der 25-malige türkische Nationalspieler. 

Er erinnert sich noch genau an die Trainer, die ihn zu Beginn seiner Karriere geformt haben. „Es war großartig für mich, mit den allergrößten Trainern dieser Zeit gearbeitet zu haben. In meinem ersten Jahr war das Udo Lattek, der mich aufgebaut hat. Danach kam Branko Zebec, der mein Positionsspiel perfektioniert hat, so dass ich wusste, wie und wo ich zu stehen habe, damit der Abwehrspieler in einer schlechteren Position ist. Und dann kam direkt Kalli Feldkamp als Motivationskünstler. Wenn man mit diesen drei Trainern gearbeitet hatte, war man eigentlich mit allem durch. Dann war man mit allen Wassern gewaschen, dann konnte es eigentlich gar keine Steigerung mehr geben.“ Es könne zu all diesen berühmten Trainern schöne Geschichten zu erzählen, so Keser, aber diese Anekdoten seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. „Die erzählen wir Fußballer uns untereinander, wenn wir uns mal treffen und erfreuen uns dann jedes Mal wieder daran.“  

„Ich bin absolut froh, zu meiner Zeit gespielt zu haben.“

Sportlich beschreibt er seine erste Zeit beim BVB als die schönste seiner Karriere. Seine erste Zeit? Ja, richtig gelesen, denn es gab zwei davon. 1984 folgte er zum ersten Mal dem Lockruf aus Istanbul und wurde vom BVB für zwei Jahre zu Galatasaray ausgeliehen. In der Saison 1986/87 kehrte er wieder nach Dortmund zurück und konnte mit fünf Toren in 24 Spielen fast nahtlos an seine erste Zeit bei den Schwarzgelben anknüpfen. Doch nach einem Jahr zog es ihn wieder zurück in die Türkei. Diesmal nicht zu Galatasaray, sondern zum kleineren Sariyer Istanbul, wo er sich in nur zwei Spielzeiten in den Annalen des Klubs verewigen konnte. Als Kapitän führte er Sariyer zunächst auf den elften und im Folgejahr auf einen sensationellen vierten Rang. Eine bessere Platzierung hat der kleine Stadtteilklub in seinen insgesamt 13 Jahren Erstligazugehörigkeit nie erreicht. Und mit 29 Toren in 58 Spielen liegt er auf dem dritten Rang der vereinsinternen ewigen Torjägerliste – mit einer Quote von 0,5 Toren pro Spiel in punkto Effektivität sogar unerreicht an der Spitze. 

Seine Leistungen blieben natürlich nicht unbeobachtet. Und nachdem Galatasaray 1989 den Titel nicht verteidigen konnte und dem Rivalen Fenerbahce die Meisterschaft überlassen musste, wurde Erdal Keser zurückgeholt. Auch dort wurde er schnell zum Kapitän und bis zu seinem Karriereende 1994 noch zweimal Türkischer Meister. Im Derby gegen Besiktas zog er sich dann im April 1994 einen Seitenbandriss im Knie zu – es war sein letztes Spiel als Profi. Nicht viele können auf eine Karriere mit so vielen Toren und vor allem auf zahlreiche Einsätze in allen drei Europapokal-Wettbewerben (Europapokal der Landesmeister, Europapokal der Pokalsieger und UEFA-Pokal) zurückblicken. Im Züricher Letzigrund durfte er 1995 mit dem Aufeinandertreffen seiner beiden großen Lieben, Borussia Dortmund und Galatasaray Istanbul, ein stimmungsvolles Abschiedsspiel feiern. 

Dem Fußball ist er auch anschließend treu geblieben. Nach seiner Ausbildung zum Fußballlehrer wurde er Co-Trainer der türkischen Nationalelf, anschließend Technischer Direktor des Verbandes. Ab 1998 baute er als dessen Europakoordinator ein Scoutingnetz auf, um in ganz Europa nach Spielern mit türkischen Wurzeln zu suchen und sie für die türkische Nationalelf zu gewinnen. Dass sich Akteure wie BVB-Ikone Nuri Sahin, die Altintop-Zwillinge oder auch Yildiray Bastürk für die türkische Nationalmannschaft entschieden, daran hatte das leidenschaftliche Wirken von Erdal Keser entscheidenden Anteil – manchmal zum Leidwesen deutscher Bundestrainer.  

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Auch bei Galatasaray war er später noch als Co-Trainer, Chefscout und sportlicher Koordinator tätig. In der Saison 2014/15 übernahm er als Interimstrainer beim abstiegsgefährdeten FC Wil, schaffte den Klassenerhalt und wurde anschließend Sportdirektor beim Schweizer Zweitligisten. So ist er jahrelang in Europa hin- und hergereist und häufig zwischen seinen verschiedenen Lebenszentren gependelt. Sein Resümee: „Ich bin ein Kosmopolit, ein weltoffener Mensch, der in allen Ländern gut klarkommt.“ 

Mittlerweile ist er zur Ruhe gekommen und verfolgt das Fußballgeschehen etwas beiläufiger. Nicht alles, was er da so wahrnimmt gefällt ihm. „Ich bin absolut froh, zu meiner Zeit gespielt zu haben. Ich bin ein Mensch, der sein Umfeld braucht, Freund und Familie. Damals warst du nicht so gläsern und wurdest nicht auf Schritt und Tritt verfolgt. Das ist ja kein Leben mehr. Ob man so was mit Geld aufwiegen kann, weiß ich nicht, aber wenn ich höre, dass die Spitzenverdiener damals in einem Jahr verdient haben, was sie heute in England in einer Woche zahlen, dann mache ich mir darüber schon so meine Gedanken.“ 

Viele BVB-Fans sind zu jung, um Erdal Keser noch live auf dem Rasen erlebt zu haben. In Vergessenheit geraten ist er trotzdem nicht. Im Juni wird er 60 Jahre alt und ist ein rundum glücklicher und zufriedener Mann. Sein Wunsch: ein langes, glückliches und vor allem gesundes Leben mit seiner Familie.
Autor: Rudolf Schaarschmidt 
Fotos: Alexandre Simoes, Imago  

Erdal Keser

geboren am: 20.06.1961
geboren in: Sivas
Nationalität: Türkei
Größe: 174 cm

Laufbahn
bis 1980 SSV Hagen
1980 – 1984 Borussia Dortmund
1984 – 1986 Galatasaray Istanbul
1986 – 1987 Borussia Dortmund
1987 – 1989 Sarıyer SK
1989 – 1994 Galatasaray Istanbul 

106 Bundesliga-Spiele (27 Tore)
129 Süper-Lig-Spiele (36 Tore)
17 Europapokalspiele (2 Tore)*  

25 A-Länderspiele für die Türkei (2 Tore) 

*davon 2 Spiele (0 Tore) für Borussia Dortmund 

BVB-TV by 1&1: Was macht eigentlich ... Erdal Keser?