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Eine Schule fürs Leben
Wenn Lars Ricken als Direktor des BVB-Nachwuchsleistungszentrums heute mit Spielern und deren Beratern Verträge aushandelt oder Karrierepläne diskutiert, sitzen andere Klubs in gewisser Hinsicht immer mit am Tisch. „Wir befinden uns in einer internationalen Konkurrenzsituation“, sagt Ricken. Es hat sich herumgesprochen, wie viel Talent in der U19 der Borussia schlummert, entsprechend lang ist die Karawane der Scouts aus dem In- und Ausland, die regelmäßig zu den Begegnungen der UEFA Youth League pilgert. Allein bei den fünf Heimspielen der vergangenen Saison wurden 260 Späher gezählt, die ihren Klubs davon berichteten, wie viele hochveranlagte junge Fußballer die schwarzgelben Farben vertreten.
„Die kennen alle unsere Spieler“, sagt Ricken, „die Rahmenbedingungen haben sich im Laufe der vergangenen Jahre komplett auf links gedreht.“ Was einerseits aus seinem Mund wie ein tiefer Seufzer klingt, geht andererseits als Bestätigung für die glänzende Arbeit durch, die im Dortmunder Nachwuchsbereich geleistet wird. Gerade erst kehrten vier BVB-Repräsentanten als frischgebackene U17-Europameister aus Budapest zurück, und wenn sich Luke Rahmann im vergangenen Jahr nicht schwer verletzt hätte, wären es vermutlich sogar fünf gewesen, auf die bei der Siegerehrung ein goldener Konfettiregen niedergegangen wäre. „Wir bilden hier gerade Topspieler aus“, betont Ricken. Die U17-Meisterschaft (nur Platz fünf im Westen) war dafür kein Maßstab, versichert der Nachwuchschef, „dafür gab es Gründe“.
Aber zurück zur U19, die aktuell von den Besten der Jahrgänge 2005 und 2006 gebildet wird und als nächste Generation hoffnungsvoller Fußballer das Rüstzeug für den Profifußball mitbekommen soll. 26 Spiele in der A-Junioren Bundesliga West, idealerweise drei weitere in der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft, dazu mindestens sechs Termine in der Youth League sind das1:2 – BVB verliert das Duell beim VfB1:2 – BVB verliert das Duell beim VfB Stahlbad, in dem sich die besonders begabten Jungs die nötige Härte für den Übergang in den Seniorenbereich holen sollen. Wie sie sich in dieser Phase ihrer Ausbildung behaupten, kann ihren späteren Karrierelauf deutlich beeinflussen. Starten sie bis in den Profikader durch wie Youssoufa Moukoko, Jamie Bynoe-Gittens, Christian Pulisic oder früher Mario Götze, um nur einige Beispiele zu nennen? Legen sie einen Zwischenschritt in der U23 (3. Liga) ein? Oder versuchen sie ihr Glück vielleicht in einemanderen Klub wie Luca Kilian (Köln), Ansgar Knauff (Frankfurt) oder aktuell – und nur übergangsweise – Tom Rothe (Holstein Kiel)?
Damit würden sie einen Weg beschreiten wie schon viele vor ihnen, die ausgeschwärmt sind in jeden Winkel Deutschlands: In keinem anderen Klub wurden so viele Spieler für die aktuellen Kader der 1., 2. und 3. Liga ausgebildet wie in Dortmund, wo die Nachwuchsförderung einen besonders hohen Stellenwert besitzt. „Die U19“, betont Ricken, „ist extrem wichtig für die Gesamtstrategie des Vereins.“ Siegermentalität entwickeln, mit höherem Druck umgehen, vor Rückschlägen nicht kapitulieren – darauf kommt es in einem sportlich maximal ambitionierten Umfeld bei den BVB-Titelhamsterern (neun Deutsche Meisterschaften, sieben Westdeutsche Meisterschaften) an.
Als Trainer gibt Mike Tullberg bei der U19 die Richtung vor. Seit 2020 fungiert der Däne mit Wohnsitz in Essen als Chef-Ausbilder der jeweils ältesten Jugend-Jahrgänge. Für drei weitere Jahre haben sich Verein und Fußballlehrer das Ja-Wort gegeben. In Tullberg beschäftigt der BVB einen Fachmann, der seinen Erziehungsauftrag weit über das rein Sportliche hinaus definiert. Gemeinsam mit seinem engagierten Team übernimmt er ausdrücklich auch Verantwortung dafür, „wie sich unsere Spieler als Menschen entwickeln“. Entsprechend viel Wert legt er auf korrektes Benehmen, auf Disziplin, vor allem: auf Respekt allen Menschen gegenüber, denen die jungen Fußballer begegnen. „Wichtig ist, ihnen Werte mitzugeben“, unterstreicht Tullberg, „sie sollen Mensch bleiben.“ So gesehen leitet der Vater von drei Kindern bei der Borussia viel mehr als eine Talentschmiede, in der seine Schüler jedes taktische System rückwärts aufsagen können, sondern eine Schule fürs Leben.
In der Doppelfunktion als Trainer und Pädagoge folgt Tullberg klaren Leitlinien. In seiner Eigenwahrnehmung charakterisiert er sich als „sehr emotional und sehr energisch.“ Sein Credo: „Ich will alles erreichen, was geht.“ Nicht mehr und nicht weniger verlangt er von seinen Spielern, denen er notfalls alle Fehler und Formkrisen nachsehen kann. Nicht bereit ist er aber zu akzeptieren, wenn sie im Alltag auch nur ein Prozent weniger als möglich investieren: „Wenn sie uns eines Tages verlassen, sollen sie in den Spiegel schauen und sagen können, dass sie jeden Tag alles dafür getan haben, der bestmögliche Spieler und Mensch zu werden.“ Mit Argusaugen wacht er darüber, dass seine Mannschaft diese Kernbotschaft beherzigt. Lässt sie im Training mal den gebotenen Ernst vermissen, lernt sie ihren Coach von seiner strengen Seite kennen. Dann ordnet Tullberg als unmittelbare Konsequenz ein paar Laufrunden an. „Wenn sie schon nicht besser werden wollen, werden sie wenigstens fitter“, erläutert er. Und lacht.
Mit einem Video, das von zwei jungen Fußballern handelte, die es nicht nach oben geschafft hatten, sensibilisierte Tullberg seine Spieler auch außerhalb des Trainingsplatzes dafür, immer bis an die Grenze zu gehen. Die Hauptdarsteller des Films hatten ihre persönlichen Versäumnisse zu spät realisiert und mussten ihre hochfliegenden Erwartungen und Träume begraben. „Meine Jungs sollen nicht in die Situation kommen, sich irgendwann mal eingestehen zu müssen: Hätte ich damals doch mehr gemacht“, sagt Tullberg. „Sie sollen jetzt alles dafür tun.“ Weil der Sport (wie das Leben) nicht fair ist und manchmal auch weh tun kann, provoziert er im Training Widerstände – und kitzelt aus seinen Jungs auf diese Weise heraus, wie man sich dagegen auflehnt. Mit einigem Erfolg, wie die vergangene Saison zeigte: Nur ein Punkt war eine kümmerliche Ausbeute nach den ersten drei Auftritten in der UEFA Youth League, bis ein bemerkenswerter Kraftakt und Endspurt das Dortmunder Team doch noch ins Achtelfinale – und später ins Viertelfinale – führte.
Die Gruppenphase im aktuellen Wettbewerb zu überstehen, hat sich auch die neue U19 in ihr Pflichtenheftchen geschrieben. Drei aufstrebende Talente haben in einer munteren Runde in der BVB-Geschäftsstelle Sport über Perspektiven und Pläne gesprochen:
• Kjell Wätjen (17), ein für sein Alter schon bemerkenswert reif wirkender Mittelfeldspieler mit „ganz viel Potenzial“, wie Lars Ricken anmerkt.
• Jaden Korzynietz (18), vielseitiger Abwehrspieler. Ihm wurde sein Talent wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt.
• Danylo Krevsun (18), Mittelfeld. Seine Geschichte ist außergewöhnlich: Der Ukrainer floh vor dem russischen Angriffskrieg mit seiner Mutter nach Dortmund, hinterließ erst bei Preußen Münster mächtig Eindruck und setzt seit Februar 2023 bei der Borussia dicke Ausrufezeichen.
KJELL, für Dich wurden in dieser Saison schon einige Torvorlagen notiert. Wer aus der BVB-Historie der zentralen Mittelfeldspieler hat Dich in dieser Hinsicht am meisten inspiriert?
In der Klub-Historie? Schwierig. Aber in der vergangenen Saison auf jeden Fall Jude Bellingham. Seine Art zu spielen, war mit ausschlaggebend für den Erfolg der Mannschaft. Als ich klein war, habe ich es geliebt, Mesut Özil und Kevin de Bruyne zu sehen, auch wenn sie eine Position weiter vorn spielten bzw. spielen als ich. Sie konnten den letzten Pass spielen, den vorletzten, sie konnten schießen. Sie haben mich immer fasziniert.
In Länderspielpausen trainierst Du gelegentlich bei den Profis mit. Was nimmst Du aus diesen Einheiten mit?
Die gestandenen Spieler helfen mir und geben Tipps. Zum Beispiel, wie ich mich positionieren soll. Oder was ich als Erstes tun soll, wenn ich den Ball habe. Generell: Ich sehe in diesen Einheiten, dass ich in Sachen Körperlichkeit und Athletik noch viel Luft nach oben habe.
Als einer von vier Dortmunder U17-Europameistern wurdest Du vor dem Spiel gegen Köln vor mehr als 80.000 Zuschauern geehrt. Wie fühlte sich das vor dieser Kulisse an?
Das war schon etwas Besonderes vor so vielen Leuten, die sich gefreut und applaudiert haben, weil deutsche Nachwuchskicker mal wieder etwas gewonnen haben. Einmal vor der Südtribüne zu stehen, gibt einem schon eine Menge Selbstvertrauen.
Hattest Du schon als Zehn- oder Elfjähriger mehr als nur verschwommene Vorstellungen davon, Profi zu werden?
Diesen Traum hatte jeder. Aber nur der Spaß und die Freude am Fußball haben mich so weit gebracht. Am Anfang ging es primär darum, gut Fußball zu spielen und Spaß zu haben.
Und wann konkretisierte sich die Idee vom späteren Leben in Richtung Profifußball?
Je älter man wird, desto mehr guckt man: In welche Richtung kann es gehen? Irgendwann ist die Schule vorbei. Und wenn man dann zuhause auszieht, muss man Geld verdienen. Ich würde das gern als Fußballer tun.
Was ist in der Youth League anders, als wenn in der U19-Bundesliga West Leverkusen, Schalke oder Köln als Gegner warten?
In der Youth League spielen die Besten der Besten. Und sie spielen einen ganz anderen Fußball. Paris Saint-Germain hat viele Einzelspieler mit extrem viel Qualität, Mailand imponierte durch physische Stärke und Robustheit – und spielte sehr schlau.
JADEN, man bescheinigt Dir eine außergewöhnlich hohe Fußball-Intelligenz. Hat Dein Vater Bernd – Ex-Profi in Mönchengladbach, Bielefeld, Wolfsburg und Duisburg – dafür Sorge getragen, dass Du Dich als Kind mehr mit dem Ball als mit der Playstation beschäftigt hast?
Nein (lacht). Ich konnte als Kind selbst entscheiden, was ich mache. Ich bin schon früh meinen eigenen Interessen gefolgt und habe eine Leidenschaft für den Fußball entwickelt. Natürlich ging es in unserer Familie viel um Fußball, aber ich bin nicht in diese Richtung gelenkt worden.
Ist Dein Vater heute ein wichtiger Ratgeber für Dich?
Auf jeden Fall. Was Fußball angeht, ist er meine Bezugsperson – und Ansprechpartner Nummer 1. Wenn es beruflich bei ihm passt, schaut er sich die Spiele selbst an. Aber in erster Linie nicht, um mir Tipps zu geben, sondern als Vater. Um seinen Sohn zu unterstützen.
Von Dir gibt es Tätigkeitsnachweise als Linksverteidiger, Rechtsverteidiger und Sechser. Erhöht diese Vielseitigkeit Deine Chancen auf eine Profikarriere?
Natürlich ist es von Vorteil, wenn man mehrere Positionen spielen kann. Ich profitiere ganz sicher davon und kann viel daraus lernen, dass ich auf unterschiedlichen Positionen eingesetzt werde.
Wie Kjell Wätjen spielst Du schon eine kleine Ewigkeit, seit 2015, für Borussia Dortmund. Wollt Ihr Michael Zorc oder Lars Ricken in Sachen Vereinstreue Konkurrenz machen?
Ich habe mich für den BVB entschieden, weil ich mich hier am meisten wohlgefühlt habe. Daran hat sich nichts geändert. Ich spiele jetzt die neunte Saison für Dortmund und habe mich nie unwohl gefühlt. Ich finde es immer noch toll hier.
DANYLO, Deine Mutter Yuliya war als Olympia-Siebte 2008 in Peking und WM-Vierte 2009 in Berlin eine ausgezeichnete 800-m-Läuferin. Das erklärt vielleicht, dass Du in jedem Spiel zwölf bis 13 Kilometer abspulst. Hättest Du auch als Leichtathlet Erfolg haben können?
Das war nie ein Thema. Mein Vater war Boxer, aber mein Interesse galt immer dem Fußball. Ich bin auch nie mit meiner Mutter gelaufen. Ich liebe Fußball.
Warum funktionierte Deine Integration innerhalb von nur wenigen Monaten so unglaublich?
Daran hat die Mannschaft einen großen Anteil. Alle helfen mir und unterstützen mich. Wenn wir uns in Deutsch nicht verständigen können, versuchen wir es in Englisch.
Man schätzt bei Dir vor allem Mentalität und Teamgeist. Wurde darauf in der Ausbildung bei Shaktar Donezk besonderen Wert gelegt?
Das kommt von meiner Mutter. Sie war Sportlerin. Von ihr habe ich gelernt, wie wichtig eine gute Mentalität ist.
Vor zehn Jahren spielte der BVB in der Champions League in Donezk. Kanntest Du die Borussia als knapp Achtjähriger schon?
Natürlich, aber ich war damals nicht im Stadion.
Geht es in der Übergangsphase zwischen Nachwuchs- und Erwachsenenfußball vor allem darum, Geduld zu haben?
Das ist ein bedeutender Faktor. Talent allein reicht nicht. Man muss hart arbeiten, um ins Profiteam zu kommen. Und man muss eine Begeisterung für den Fußball haben. Der Weg ist hart und steinig. Nur die Besten schaffen es am Ende.
Der Krieg in der Ukraine hat Dich nach Deutschland verschlagen. Wirst Du in Deine Heimat zurückkehren, wenn der Krieg endet?Dann gehe ich nach Hause – um endlich meinen Vater zu treffen, den ich seit 20 Monaten nicht mehr gesehen habe. Wir können zurzeit nur mit täglichen Video-Telefonaten Kontakt halten. Zwar könnte ich ihn besuchen, aber dann dürfte ich nicht wieder zurück nach Dortmund.
Und wie planst Du sportlich?
Fußballerisch sehe ich meine Zukunft hier.
In dem einstündigen Gespräch kristallisiert sich klar heraus, dass die BVB-Talente ihren Traum mit einer gesunden Portion Realismus leben. Sie wissen, dass die vor ihnen liegenden Monate und Jahre kein Zuckerschlecken werden. Sie werden, wie Kjell Wätjen ahnt, Durchhaltevermögen entwickeln müssen. Jaden Korzynietz kann schon ein Lied davon singen, wie sich Rückschläge anfühlen. Nach einem Riss der Syndesmose fiel es ihm nicht leicht, seine Reha durchzuziehen. Die anderen Jungs trainieren zu sehen und selbst nicht auf dem Platz stehen zu können, tat ihm weh. Immerhin: Er habe die Zeit „bestmöglich genutzt, um stärker wiederzukommen“, sagt er. Jaden war damals viel im Kraftraum anzutreffen.
Mit Ausnahme von Danylo Krevsun, der schon „fertig“ sei, wie er verrät, markiert die Schule einen elementaren Bestandteil im dualen Ausbildungssystem der Spieler. Für Kjell Wätjen und Jaden Korzynietz stehen in einem guten halben Jahr in Dortmund und Bochum die Abiturprüfungen an. „Im Fußball kann immer mal etwas dazwischenkommen“, sagt Kjell, „deshalb liegt mir viel an einer guten schulischen Ausbildung.“ Jaden nimmt dafür auch Überstunden in Kauf. Erst kürzlich musste er in den Ferien allein eine mehrstündige Mathematik-Klausur nachschreiben, weil er zum ursprünglichen Termin mit der U19 in Paris weilte. An die Klagemauer stellt er sich deshalb nicht: „Ich habe mich bewusst dafür entschieden, das Abitur zu machen. Wenn das mit etwas mehr Stress als bei anderen verbunden ist, ist das okay.“
Als erstes Saisonziel definiert Mike Tullberg den Gewinn der Westdeutschen Meisterschaft. „Das“, betont er, „ist der ehrlichste Titel“. Zu gern würde er auch den DFB-Pokal der Junioren einmal in die Höhe recken, doch dieser Zug ist nach einer herben Erstrunden-Klatsche in Hoffenheim (0:6) schon sehr früh abgefahren. Schlimmer noch: Borussia Dortmund konnte diese Trophäe noch nie erobern. „Wir lechzen danach“, stöhnt Nachwuchsboss Lars Ricken, aber irgendwie scheint es nicht unser Wettbewerb zu sein.“ Woran das liegt? „Vielleicht an mir“, meint Ricken augenzwinkernd. „Als Spieler habe ich viele Titel gewonnen – doch in die Nähe des DFB-Pokals bin ich nie gekommen...“