Mahmoud Dahoud, den alle nur „Mo“ rufen, trägt seit 2017 das schwarzgelbe Trikot. Mehr denn je hat er in den zurückliegenden Wochen und Monaten Einfluss nehmen können auf das BVB-Spiel. „Ich bin viel stabiler, viel erwachsener geworden“, sagt der 24-Jährige in einem Interview über den Dächern von Dortmund bei zwei Tassen fantastischem Kaffee ...

Er ist dann mal kurz weg zum Kicken. Kein Problem, sagt die Freundin, sie kennt das nicht anders, ihr Mo ist halt verrückt nach Fußball, unter der Woche beim Training, samstags in der Bundesliga und früh morgens gern auch mal kurz nach dem Aufstehen. Draußen vor der Tür, im vierten Stock, gleich neben dem Schlafzimmer.

Mahmoud Dahoud, den sie nicht nur beim BVB alle Mo nennen, hat sich seinen eigenen Trainingsplatz gebaut. Hoch über den Dächern von Dortmund, gleich unterm Dach seines Apartmenthauses. „Ich hab‘ mir gedacht: Die Terrasse ist groß genug, und weil ich hier auf beiden Seiten eine habe... “ Also hat er seinen Onkel angerufen, „der hat ein Händchen für solche Sachen“, und ein paar Wochen später war auch schon alles fertig. Homeoffice steht ja hoch im Kurs dieser Tage.

Als im Frühjahr Corona nach Dortmund kam und den Fußballbetrieb auf der ganzen Welt lahmlegte, hat Borussias Mittelfeldmann jeden Tag auf der Terrasse sein privates Programm absolviert. „Immer für ein paar Stunden, denn du musst das Gefühl für den Ball behalten“, sagt Mo. „Komm mit, ich zeig dir mal, was man da so machen kann!“ 

Also rein in die Fußballschuhe und raus in den Käfig. Feinster Kunstrasen, drei Mal zehn Meter, eingerahmt von einer hüfthohen Bande und überspannt von einem Netz, damit auch kein Ball hinunter fällt auf die Straße, deren Name an dieser Stelle nicht verraten wird. Mo bleibt beim privaten Training auf der Terrasse über den Dächern Dortmunds lieber unter sich.

Für alle anderen Interessierten darf Alex, unser Fotograf, jetzt schnell ein paar Fotos machen. Danach geht’s zum Interview einmal quer hinüber ins Wohnzimmer, mit kurzem Abstecher in die Küche zur Kaffeemaschine. Es heißt, dass kein Barista in Dortmund auch nur annähernd an die Künste von Mo Dahoud herankommt. Den Kaffee kauft er immer noch in Düsseldorf ein. Nicht weit weg von Reusrath, wo er aufgewachsen ist und seine Karriere ihren Anfang genommen hat. Seit ein paar Wochen und elf Minuten im Testspiel gegen die Türkei ist Mo jetzt Nationalspieler. Ein schöner Anlass für ein Gespräch über Mühen in der Ebene der Vergangenheit und vielversprechende Perspektiven.

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Glückwunsch zum ersten Länderspiel, Mo! Joachim Löw sagt: Du bist der Mann, dem die Zukunft gehört. Was dürfen wir denn in der Zukunft noch alles von dir erwarten?
Lass mich das mal so sagen: Wenn ich öfter spiele, dann kann ich mich weiterentwickeln, dann finde ich meinen Rhythmus, dann wird das was. Erinnerst du ich an das erste Bundesligaspiel nach der Länderspielpause in Hoffenheim? Wir haben gewonnen, völlig verdient. Aber ich persönlich war einfach nicht in Matchform, ich war nicht spritzig genug, es hat mir einfach die Praxis gefehlt. Als junger Spieler ist es wichtig, dass du dein Niveau hältst. Aber das kannst du nur, wenn de auch regelmäßig spielst. Ich hatte bis dahin in dieser Saison keine Rolle gespielt. Also hab‘ ich mir in der Woche davor gedacht: Okay, arbeitest du ein bisschen an deiner Kraft. Nach dem Abschlusstraining hab‘ ich noch eine halbe Stunde aufs Tor geballert. Nie hätte ich damit gerechnet zu spielen. Und als ich dann doch dabei war, bin ich mit schweren Beinen aufgelaufen.

Es gibt in der Bundesliga wahrscheinlich keine zweite Adresse mit einem derartigen Angebot an zentralen Mittelfeldspielern von höchster Qualität. Vor zwei Jahren sind Thomas Delaney und Axel Witsel gekommen, zur vergangenen Saison Julian Brandt, später noch Emre Can, in diesem Sommer auch noch Jude Bellingham.
Super-Mann, der Jude, gerade 17 Jahre alt und schon seit weit, Wahnsinn! Ja, klar, die Konkurrenz hier ist schon gewaltig, aber genauso will ich es auch! Ich will jeden Tag im Training diese Herausforderung haben. Ich mache mir, Ehrenwort!, darüber keine Gedanken, Wenn ich auf dem Platz bin, dann will ich einfach nur Fußball spielen! Aber wenn du lange raus bist, musst du dich erst wieder rantasten. Du musst wissen, wie dein Nebenmann im Spiel reagiert, wie er den Pass antizipiert, wie er weiterläuft. Du musst immer wieder daran arbeiten, Teil des Ganzen werden. Das geht nur über den Wettkampf, denn nur da herrscht die höchste Anspannung und die höchste Konzentration, so etwas kannst du auch im Training kaum simulieren.

Du bist in der jüngeren Vergangenheit immer mal wieder mit anderen Vereinen in Verbindung gebracht worden.
Für mich war das nie ein Thema! Ja, die Konkurrenz hier ist riesengroß, aber weißt du: Das ist gerade der Kick! Hier hast du bei jedem Training die Herausforderung, du musst immer an deine Grenzen gehen. Ich genieße jeden Tag in dieser fantastischen Mannschaft. Dazu kommt, dass wir auch menschlich immer mehr zusammenwachsen. Die Gruppe wächst in sich, wir genießen es, zusammen Fußball zu spielen. 

Genau dafür stand der BVB bei den Meisterschaften 2011 und 2012 – für eine verschworene Gemeinschaft, die ihre Erfolge auch deshalb erzielte, weil die Spieler untereinander eben mehr waren als nur Spieler.
So ist es! Schau dir die Bayern an, jetzt und, wie ich finde, noch extremer in der Ära Robben-Ribéry: Das war eine Mannschaft von Freunden, da hat jeder für jeden gekämpft. Auch, weil die Mannschaft über einen längeren Zeitraum zusammengehalten wurde. Ich sehe aber auch bei uns den Trend, dass es in eine ähnliche Richtung geht. Der innere Kreis rückt zusammen, die Achse bleibt zusammen, wir wachsen zusammen und bauen etwas auf!

Du warst der große Gewinner der ersten Wochen beim Re-Start nach der Corona-Pause. Gegen Schalke, Wolfsburg und den FC Bayern hast du sehr gute Spiele gemacht – und dann kam diese blöde Knieverletzung.
Ja, die erste wirklich heftige, seit ich in Dortmund bin, das war schon bitter, nach einer Drehung ohne Kontakt zu einem Gegenspieler ist das Band abgerissen. Blöd gelaufen, aber damit darfst du dich nicht lange aufhalten. Ich hab‘ mir also gedacht: Egal, vorbei, jetzt bereitest du dich auf die neue Saison vor!

In diesem Spiel gegen die Bayern kommt es zu einer Szene, die für all das steht, was der Fußballspieler Mahmoud Dahoud an guten Tagen zu leisten vermag. Diese Szene ereignet sich im Niemandsland kurz vor dem Mittelkreis. Mo erobert den Ball, schwer bedrängt von Joshua Kimmich, vorn stellt sich Thomas Müller in den Weg. Jener Müller mit den langen Streichholzbeinen, die noch jeden Ball in Besitz nehmen, und so sieht es auch diesmal aus. Nichts da!, signalisiert Mo. Er tritt mit der rechten Fußspitze auf den Ball, verharrt kurz in der Luft, gestattet der Sohle eine Streicheleinheit, zieht den Ball auf den linken Fuß, der sofort einen Konter einleitet. Müllers Streichholzbeine grätschen ins Nirgendwo. „Mahmoud“, das heißt übersetzt aus dem Arabischen „der Gepriesene“, und wer mag den Dortmunder Mahmoud nicht preisen für dieses Kunststück? 

So etwas machst du schon ganz gern, oder?
Nur wenn es zielführend ist. Ich liebe Tricks, aber du darfst sie nicht für die Galerie spielen, sie müssen sich in das Geschehen einfügen.

Würdest du mir widersprechen, wenn ich die These aufstelle: Du hast die besten Füße beim BVB? 
Selbstverständlich widerspreche ich da! Schau dir mal Rapha Guerreiro an, ein sensationeller Kicker! Oder Jule Brandt. Oder Marco Reus! Weißt du, wenn vor dir ein Offensivmann wie Marco spielt, dann hast du dahinter viel weniger Arbeit! Wenn ein Stürmer gut anläuft und presst, haben die Innenverteidiger keine Gelegenheit, das Spiel aufzuziehen. Dazu macht Marco in der Bewegung nach vorn Sachen mit einem Kontakt, für die andere drei brauchen. Alles, was er auf dem Platz anstellt, ist so superintelligent!

Ich hab‘ nicht nach der Spielintelligenz gefragt, sondern nach den besten Füßen ...
Lass mich das mal so sagen: Ich kann ein paar Tricks, die nicht so viele Leute können. Aber andere können Sachen, die ich wiederum nicht kann. Reicht das? Ich bin ganz zufrieden damit.

Wie viel in deinem Spiel ist Intuition und wie viel Berechnung? Was ist wichtiger: Kopf oder Gefühl? 
Ganz klar das Gefühl! Wenn du nur den Kopf einschaltest, denkst du zu viel nach, es schwingen dann auch immer Zweifel mit. Die Mischung macht es.

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Mo spielt jetzt im vierten Jahr für den BVB, und es ist nicht immer so gut gelaufen wie in diesen Tagen. Im Sommer 2017 zählte er zu den begehrtesten Spielern der Bundesliga, gerade 20 Jahre alt, umworben von Juventus Turin und dem FC Bayern. Das Gefühl sprach für Dortmund, nicht nur wegen der Nähe zur Familie. Thomas Tuchel hatte intensiv um ihn geworben und Mo die Wertschätzung vermittelt, die junge Spieler brauchen. Aber beim ersten Training im Sommer 2017 hieß der Trainer: Peter Bosz.

Lothar Matthäus hat kurz vor deinem Wechsel aus Mönchengladbach nach Dortmund gesagt, aus dir könnte ein Weltfußballer werden. Da warst du gerade 19.
Kann ich mich auch gut dran erinnern, das war nach einem Spiel mit Gladbach gegen Frankfurt. 5:1 für uns, ich hab‘ ein Tor geschossen, eins vorbereitet und noch einen Elfmeter rausgeholt. Weißt du, warum ich damals so gut war? Der Trainer hat mich gelassen. Er hat mir die Freiheit gegeben, die ich auf dem Platz brauche. Bitte nicht falsch verstehen: Ich weiß, schon, dass auch ich mit meinen bald 25 Jahren noch sehr viel dazulernen kann. 

Was lernt man denn im Profi-Alltag noch alles dazu?
Viel, gerade in den vergangenen drei Jahren hier in Dortmund, vor allem vom Kopf her. Ich bin viel stabiler, viel erwachsener geworden. Ich habe gelernt, jeden Tag mit positiver Stimmung zum Training zu gehen und dann alles zu geben, was sich kann. Das ist wahnsinnig wichtig, denn nur so kannst du dich auch verbessern. Nur nach einem guten Training komme ich glücklich nach Hause, denn dann ich weiß, dass ich alles gegeben habe. 

Wie oft kommst du denn glücklich nach Hause?
Eigentlich immer, außer vielleicht zwei-, höchstens dreimal in meiner Dortmunder Zeit. Ich würde mich im positiven Sinn als fußballverrückt bezeichnen. Oder als Perfektionist. Ich bin wirklich erst zufrieden, wenn ich alles gegeben habe. Ich will mich immer weiterentwickeln und nie stehen bleiben.

Guckst du dir deine Spiele noch mal an?
Selbstverständlich! Jedes einzelne, und ich analysiere sie ganz genau. Das hab‘ ich schon zu meiner Gladbacher Zeit gemacht, und ich habe alles auf USB- Sticks gespeichert!

Auch die Länderspiel-Minuten gegen die Türkei?
Na klar, darum kümmert sich der DFB. Um ehrlich zu sein: Ich war nicht so begeistert. Klar, das war ein tolles Gefühl, das erste Länderspiel. Aber bei meiner Einwechslung lief es schon nicht mehr so gut, viele Auswechslungen, da geht der Rhythmus verloren. Da kannst du nicht mehr das Spiel kontrollieren.

Gladbachs Manager Max Eberl hat Mo mal als typischen Straßenfußballer bezeichnet. Das sagt man immer gern über Kicker, die eine individuelle Note in den Mainstream jenseits der reinen Lehre der DFB-Nachwuchszentren bringen. Aber wer spielt im dritten Jahrtausend auf der Straße? Wo ist heute noch Platz zwischen Autos, Bussen und Straßenbahnen? Mo lacht, er krempelt den Ärmel seines Sweatshirts hoch und streicht vorsichtig über die nackte Haut. 

Was ist das?
Narben! Kleine Andenken an meine Kindheit, an die Spiele auf Asphalt und Beton. Meine Knie sehen genauso aus. Das war eine coole Zeit, immer gegen die älteren Jungs, da waren auch richtig gute Zocker dabei. Später, als ich schon ein bisschen älter war, haben wir uns jeden Sonntag auf einem Parkplatz getroffen, da kamen bestimmt 40 Leute zusammen, und wir haben richtige Turniere gespielt.

Fehlt dir das heute manchmal? An einem freien Sonntag nach dem Auslaufen auf die Straße zu gehen und mit ein paar Kumpels zu zocken?
Das würde ich wirklich gern, aber ich glaube, der Trainer wäre damit nicht ganz einverstanden. Stell dir mal vor, da passiert was, ich knicke um und verstauche mir den Knöchel, soll ich dann sagen: Sorry, das ist mir beim Aufstehen vom Sofa passiert?!

Du hattest mal einen Ruf als Quatschkopf, der nichts ernst nimmt.
Tut mir leid, aber das geht an der Wirklichkeit vorbei. Natürlich mache ich auch mal einen Joke, aber das gehört dazu – wenn du nicht mehr lachen kannst, läuft irgendetwas falsch. Aber das hat überhaupt nichts mit meiner Einstellung zum Fußball zu tun, mit meiner Arbeitsauffassung. Ich nehme nichts auf die leichte Schulter, erst recht nicht auf dem Fußballplatz. Jetzt, wo es in den Stadien so leise ist, fragen mich immer mehr Leute, warum ich denn auf einmal so laut bin. Sorry, aber das war ich schon immer. Es ist bei dem Lärm nur niemandem aufgefallen. 

Nach einer Stunde über den Dächern von Dortmund und zwei Tassen von Mos fantastischem Kaffee bleiben noch ein paar Minuten Zeit für ein heikles Thema. Die Familie Dahoud ist 1996 aus Syrien nach Berlin gekommen, da war Mo gerade sieben Monate alt. Wer redet schon gern über Krieg und Vertreibung, wenn ein Betroffener mit am Tisch sitzt?

Mo, du bist in Reusrath aufgewachsen und zur Schule gegangen, du bist deutscher Nationalspieler, aber viele Familienmitglieder leben immer noch in Syrien. Ist es unanständig, dich auf diese Wurzeln anzusprechen?
Nein, kein Problem, das werde ich öfter gefragt. Ich habe die Heimat meiner Eltern leider nie kennengelernt. Arabien ist für mich eine große Unbekannte, es hat nur mal zu drei Tagen im Libanon gereicht, in Syrien ist es leider zu gefährlich. Das fällt mir schon schwer! Ich würde wahnsinnig gern mal meinen Opa besuchen, den kenne ich nur vom Telefon.

Was verbindest du noch mit Syrien?
Also, da ist schon noch einiges. Zum Beispiel die Musik oder das Essen. Und natürlich die Sprache. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, zu Hause haben wir Arabisch gesprochen. Aber ich persönlich habe sicherlich sehr viel mehr deutsche Eigenschaften. Einsatz, Disziplin und Pünktlichkeit sind für mich keine Fremdwörter. Wenn ich mit Syrern zusammen bin, dann lachen die mich aus, die sagen: Du bist kein Syrer, sondern Deutscher, was denn sonst?
Autor: Sven Goldmann
Fotos: Alexandre Simoes