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Das letzte deutsche Endspiel – 60 Jahre Deutscher Meister
Im Sommer 1962 beherrschten die Diskussionen über die Einführung einer „Bundesliga“ die Debatten im deutschen Fußball, mehr noch als die Weltmeisterschaft in Chile oder die anstehende Saison in den fünf regionalen Oberligen. Amtierender Deutscher Meister war der 1. FC Köln. Dessen Präsident Franz Kremer galt als einer der lautstärksten Befürworter einer Profiliga, über deren Einführung schon 40 Jahre lang debattiert wurde. Obwohl das Profitum ausdrücklich verboten war, war Sepp Herberger einer der Ersten, die sich wegen rechtswidriger Zahlungen der Klubs vor dem Sportgericht verantworten mussten. Im Jahr 1921 war das, Herberger 24 Jahre junger Spieler des SV Waldhof Mannheim – und das „Wunder von Bern“, das Herberger als Trainer initiierte, noch gut drei Jahrzehnte entfernt.
Die Befürworter vertraten die Ansicht, dass eine starke Nationalmannschaft nur aus einer Liga der Besten hervorgehen könne. Das Vertragsspielerstatut erlaubte zudem nur Zahlungen von 400 D-Mark im Monat; die Fußballer mussten ihren Lebensunterhalt in anderen Berufen verdienen. Die Gegner argumentierten, dass sich sportlicher Wettstreit und Geldverdienen nicht vereinbaren ließe und führten zudem steuerrechtliche Bedenken und finanzielle Risiken an. Ein Versuch, die Bundesliga auf dem DFB-Bundestag 1958 im „Frankfurter Römer“ zu gründen, war an diesen Bedenken gescheitert. Vier Jahre später, am 28. Juli 1962, stimmten 103 der 129 Delegierten im Goldsaal der Dortmunder Westfalenhalle für ihre Einführung zur Saison 1963/64. Damit war auch klar: Die Spielzeit 1962/63 würde die letzte ihrer Art sein.
In der Oberliga West war die Leistungsdichte vergleichsweise hoch. In Borussia Mönchengladbach, Bayer Leverkusen, 1. FC Köln, Meidericher SV (MSV Duisburg), Wuppertaler SV, Fortuna Düsseldorf, RW Oberhausen, Alemannia Aachen, Preußen Münster, Schalke 04 und Borussia Dortmund spielten elf der 16 Teilnehmer im Laufe der Jahre in der Bundesliga, fünf von ihnen sind Gründungsmitglieder.
Die Vorbereitungen liefen wie immer. Antiquiert. Als Beispiel dafür darf die Pressearbeit genannt werden. Der Name des späteren Europapokalsiegers Theo Redder wurde dem Berichterstatter des kicker offenbar auf Zuruf übermittelt. Unter „Zugänge“ hieß es im gedruckten Artikel jedenfalls: „Wosab (Marl), Roggensack (Paderborn); Verträge für die Jugendspieler Redda und Zyber“. Der Ausblick war knapp gehalten: „Die Standardspieler bleiben alle bei Borussia. Wie sich die Neuerwerbungen später einspielen werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass Wessel sich weiterhin als Nachwuchstormann betätigen soll. Im Sturm hat die Neuerwerbung Wosab eine Chance. Größere Verpflichtungen nahm Borussia auch dieses Jahr nicht vor.“ Angehängt an diesen Achtzeiler war dann noch: „Kicker-Mitarbeiter Robert Arnold schlägt folgende Standard-Elf vor: Kwiatkowski (Wessel) – Burgsmüller, Geisler – Peters, Paul, Bracht – Sturm, Schmidt, Schütz, Konietzka, Cyliax (Emmerich).“
Neben den oben genannten elf renommierten Klubs gehörten der Oberliga West auch Vereine wie Hamborn 07 oder TSV Marl-Hüls an. Hier zeigte sich das Leistungsgefälle dann deutlich. Zum Saisonauftakt am 19. August 1962 erlebten 25.000 Fans in der gut gefüllten „Roten Erde“ ein 11:1-Schützenfest gegen Marl mit fünf Konietzka- Toren, einem Dreierpack von Schütz und zwei Wosab-Treffern bei dessen Debüt. Aki Schmidt musste sich mit einem Tor begnügen.
Nach Siegen in Gladbach (4:3) und zuhause gegen Hamborn (3:1) führte Schwarzgelb die Tabelle an, kassierte dann aber in Leverkusen einen unerwarteten ersten Dämpfer – nach 0:3-Rückstand kamen die Treffer von Schmidt (68.) und Gerd Roggensack (85.) zu spät –, dem ein zweiter folgte: Im Spitzenspiel gegen den 1. FC Köln ging der BVB vor 38.000 Besuchern durch Treffer von Jürgen Schütz und Reinhold Wosab zweimal in Führung, doch der amtierende Meister freute sich über einen späten 3:2-Auswärtssieg. Am Essener Uhlenkrug, beim 1:2 gegen ETB Schwarz-Weiß, konnten die Borussen ihr Spiel abermals nicht durchsetzen, zu sehr war es in die Breite angelegt, „so dass die Essener Hintermannschaft immer wieder die Dortmunder Kombinationen durchschneiden konnte“, hieß es im kicker. Timo Konietzka verpasste mit einem Pfostenschuss den 2:2-Ausgleich, doch da die Gastgeber ihrerseits zwei Holz-Treffer zu verzeichnen hatten, ging das 1:2 aus Dortmunder Sicht in Ordnung. In der Tabelle bedeutete es einen herben Rückschlag: Borussia war nach sechs Spieltagen vom ersten auf den neunten Platz durchgereicht worden. Köln an der Spitze schon um vier Punkte enteilt.
Die Mannschaft fand aber schnell zurück in die Spur, startete eine Serie mit sechs Siegen, rechnet man das Nachholspiel gegen Aachen (5:3) mit ein. Und so hieß in einer begradigten Tabelle der Spitzenreiter nach 13 Runden wieder Borussia Dortmund. Noch mehr als der Herbst machte den Spielplangestaltern der Winter zu schaffen. Im Dezember konnte der BVB nur zwei Partien bestreiten; 28 Tage lagen zwischen den Begegnungen am 2.12. in der Glückauf-Kampfbahn – 1:0 für Schalke durch Nowak, zum 1:1-Endstand traf Wosab – sowie am Tag vor Silvester in der Roten Erde, in der 5.000 frierende Fans im Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach kein vorgezogenes Feuerwerk erlebten. Sie froren im Schneeregen. Die Forderung von Trainer Hermann Eppenhoff, im Angriffsspiel auf Flachpässe zu verzichten, stattdessen auf hohe Hereingaben zu setzen, wurde zu selten umgesetzt. In der Abwehr wirkte Lothar Geisler gegen den damals noch für Gladbach stürmenden Franz Brungs nicht immer sicher, aber die beiden Außenläufer Jockel Bracht und Willi Sturm bildeten im Verbund mit „Stopper“ Paul ein starkes Bollwerk, das lediglich einmal geknackt wurde, als Fendel zum zwischenzeitlichen 1:1 ausglich. Timo Konietzka (2) und Jürgen Schütz trafen zum 3:1- Heimsieg. Den Jahreswechsel erlebte der BVB auf dem zweiten Tabellenplatz, einen Punkt hinter dem 1. FC Köln, allerdings auch mit einem Spiel weniger. Konietzka und Schütz führten die Torschützenliste mit 16 bzw. 15 Treffern an.
Am 11. Januar gab es eine frohe Nachricht für den BVB: Der Bundesliga-Ausschuss gab die ersten neun Mannschaften bekannt, die in der neuen Bundesliga im August einen Startplatz erhielten. Aus dem Westen waren es der 1. FC Köln, Schalke 04 und eben Borussia Dortmund (später erhielten Duisburg und Münster die letzten Tickets). Das Wetter sorgte zu Beginn des Jahres für weitere Spiel- absagen. Während die Kölner bis Mitte März wenigstens vier der acht vorgesehenen Begegnungen austragen konnten, waren es bei den Dortmundern nur zwei – und die endeten unerfreulich. In Aachen (0:4) und – beim Tabellenletzten! – Marl (0:1) blieb der BVB punkt- und torlos. Das Nachholspiel beim 1. FC Köln ging Mitte April mit 1:2 verloren. Schütz brachte die Gäste zwar in Führung, doch der Tabellenführer drehte die Partie noch vor der Halbzeit- pause. Abgesehen von einem 0:1 in Duisburg beim Meidericher SV blieb es jedoch die letzte Pleite bis zum letzten Spieltag. Mehr noch. Die beharrlich um den zweiten Platz kämpfenden Dortmunder eroberten am 1. Mai mit einem 4:1-Erfolg im Nachholspiel über Fortuna Düsseldorf die Tabellenführung zurück, verspielten diese jedoch elf Tage später am letzten Spieltag der Oberliga West mit 0:1 beim Vorletzten Wuppertaler SV und beendeten die Saison auf Platz zwei. Torschützenkönig wurde Jürgen Schütz (25 Treffer) vor dem Kölner Christian Müller (21).
Der Westen entsandte – wegen Titelverteidiger Köln – jedoch zwei Vertreter in die Endrunde zur Deutschen Meisterschaft, und so blieb der Fauxpas in Wuppertal ohne weitere sportliche Konsequenzen. Doch auch hier misslang der Start. Nach zwischenzeitlicher 2:1-Führung (Wosab, Konietzka) unterlag Borussia beim TSV 1860 München durch späte Tore von Küppers (82.) und Brunnenmeier (86.) mit 2:3. Es war zugleich das letzte Oberligaspiel von Weltmeister „Heini“ Kwiatkowski im BVB-Tor. Bernhard Wessel, der zwischendurch schon immer wieder mal ran durfte, wurde ihm von nun an vorgezogen. Er hielt seinen Kasten zumindest sauber, dennoch stand am Ende, nach einem 0:0 gegen Borussia Neunkirchen, nach zwei Spieltagen nur ein Punkt auf der Habenseite.
Wie so oft kreuzten sich dann die Wege von Borussia Dortmund und Hamburger SV. Aki Schmidt, Charly Schütz und Alfred Kelbassa schossen einen 3:0-Vorsprung heraus, doch als Uwe Seeler in der 82. Minute traf und Schmidt kurz darauf ein Eigentor unterlief, wurde es noch einmal spannend. Endstand 3:2 für den BVB, der erste Sieg war geschafft. Auch das Rückspiel bei den Rothosen gewann Schwarzgelb, 1:0 durch ein Tor von Schütz und dank der Paraden des herausragenden Wessel im BVB-Tor, während Tabellenführer 1860 München in Neunkirchen patzte. Beide Mannschaften führten die Tabelle punktgleich an. Das Rückspiel gegen Neunkirchen wurde wegen des großen Zuschauerinteresses in den Ludwigshafener Ludwigspark verlegt. Borussia machte kurzen Prozess, gewann nach 0:1-Rückstand durch Tore von Konietzka (2), Schütz, Cyliax und Schmidt mit 5:2. Mit einem 4:0 gegen 1860 – „Max und Moritz“, Konietzka und Schütz, teilten sich die Treffer – machte Borussia Dortmund den fünften Einzug in ein deutsches Endspiel perfekt.
„Kein Borussia-Wetter“, befürchteten die Dortmunder Fans am 29. Juni 1963 angesichts der druckenden Hitze im Stuttgarter Neckarstadion Böses. Zu Unrecht, der sommerliche Finaltag bescherte dem BVB eine Sternstunde der Vereinsgeschichte und den dritten Titelgewinn nach 1956 und 57.
Im Endspiel wartete Westrivale und Titelverteidiger 1. FC Köln, gegen den die Schwarzgelben in beiden vorangegangenen Ober- liga-Duellen unterlegen gewesen waren. Die Domstädter, gespickt mit neun Nationalspielern, galten als klarer Favorit. „Nicht nur das Wetter war heiß“, meinte Spielmacher Aki Schmidt: „Kölns Trainer Tschik Cajkowski hatte die Partie zusätzlich dadurch angeheizt, weil er in der Presse nur über die Höhe des Kölner Sieges spekulierte.“
Am Vorabend gingen die Borussen ins Kino. Es wurde „Der Würger von Blackmore“ gezeigt, und Trainer Hermann Eppenhoff meinte dazu nur: „Wir wollen uns noch einige Schliche abschauen.“
Die rheinische Arroganz war Jockel Bracht, neben Willi Burgsmüller der einzige Borusse, der schon bei den Meisterschaften 1956 und 1957 dabei war, ein Dorn im Auge: „Die feinen Pinkel aus Köln und ihre Weiber mit den großen Hüten, die meinen, sie können die armen Säckel aus dem Pott im Vorübergehen einseifen. Denen werden wir es mal zeigen!“ Und wie sie es ihnen zeigten!
Um 15.09 Uhr führte der BVB vor 74.662 zahlenden Zuschauern bereits mit 1:0. Hoppy Kurrat, der eigentlich nur den Kölner Spielmacher Hans Schäfer aus dem Spiel nehmen sollte und zudem nicht gerade als Torjäger bekannt war, überwand mit einem Flachschuss aus 20 Metern Nationalkeeper Fritz Ewert. „Das frühe Tor kam unserer Spielanlage sehr entgegen“, so Schmidt. „Wir waren eher defensiv ausgerichtet, aber mit unseren schnellen Stürmern wie Schütz, Konietzka, Cyliax und Wosab ungeheuer konterstark.“ Reinhold Wosab war es, der gegen die druckvollen Kölner nach der Pause einen kapitalen Fehler von Schnellinger nutzte und auf 2:0 erhöhte. Ewers hatte dann gegen den Distanzschuss in der 58. Minute keine Chance. Schmidt – der 1957 Nichtberücksichtigte – brachte den dritten Titelgewinn zehn Minuten später mit seinem Treffer zum 3:0 unter Dach und Fach. Der Kölner Anschlusstreffer in der 74. Minute durch Karl-Heinz Schnellinger war lediglich Makulatur.
Ein Tag später, um genau 18.22 Uhr, erreichte der Meister den Dortmunder Hauptbahnhof. Beim Autokorso zum Borsigplatz wurde die Mannschaft von rund 150.000 Fans begeistert begleitet. Abgeschlossen wurden die Feierlichkeiten mit einem Bankett im Silbersaal der Westfalenhalle. Direkt nebenan, im Goldsaal, war die Bundesliga gegründet worden, in die Borussia Dortmund acht Wochen später als letzter Gewinner eines Endspiels um die Deutsche Fußballmeisterschaft startete.
Zwischen Meisterschaft und Bundesliga-Premiere wurde im Schnelldurchgang noch der DFB-Pokalsieger 1963 ermittelt. Mit Siegen gegen die Sportfreunde Saarbrücken, TSV 1860 München und Werder Bremen erreichte der BVB auch hier das Endspiel, musste sich aber in Hannover dem HSV nach drei Seeler-Toren mit 0:3 geschlagen geben und verpasste damit das „Double“, was bis dahin nur einem Klub (Schalke 04) gelungen war. Aus der Meistermannschaft fehlten die verletzten Wolfgang Paul und Timo Konietzka sowie Charly Schütz, der nach Italien gewechselt war. „Wir waren uns unserer Sache wohl zu sicher“, haderte Trainer Eppenhoff.
Fast 50 Jahre dauerte es, bis Schwarzgelb Versäumtes nachholte und im Jahr 2012 zum ersten und bislang einzigen Mal das „Double“ gewann. 60 Jahre ist die Bundesliga mittlerweile alt. Ihre Einführung 1963 war überfällig, ihr Erfolg beispiellos. In der Oberliga war der BVB zwar auch Zuschauerkrösus, doch der Schnitt von 19.700 Besuchern in den Jahren 1947 bis 1963 ist kein Vergleich zu den 81.000 heute im SIGNAL IDUNA PARK.
Autor: Boris Rupert
Fotos: imago images
Der Text stammt aus dem Mitgliedermagazin BORUSSIA. BVB-Mitglieder erhalten die BORUSSIA in jedem Monat kostenlos. Hier geht es zum Mitgliedsantrag.