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Tausend schönste Tage im Stadion
Philipps hat einen neuen Rasierer auf den Markt gebracht. Die Lufthansa kündigt auf einer doppelseitigen Anzeige einen neuen Flugzeugtyp an: „965 km/h Spitze. Flüsternd nach Fernost. Später auch nach Südamerika.“ Die Deutsche Bundesbahn sucht Mitarbeiter. Der OPEL Manta wird „ab jetzt 366 DM billiger“ angepriesen. Und PUMA ist „einfach klasse“. Das alles erfährt man, wenn man die kicker-Ausgabe vom 8. April 1974 durchblättert.
Die McDonnell Douglas DC-10 ist als Passagierflugzeug längst Geschichte. Vor acht Jahren startete der letzte kommerzielle Flug. Der letzte Manta lief 1988 vom Band – ist aber bis heute Kult, genauso wie PUMA weiterhin „einfach klasse“ ist und die Bahn händeringend Mitarbeiter sucht.
Was man nicht erfährt beim Durchblättern jener Ausgabe: In Dortmund ist sechs Tage zuvor ein neues Fußballstadion eröffnet worden. Wobei: Ganz totgeschwiegen wird diese Nachricht dann doch nicht. Chefredakteur Karl-Heinz Heimann – der Erfinder der Torjägerkanone – hält in einer Kolumne fest: „Die Fußballweltmeisterschaft rückt unaufhaltsam näher. Das letzte WM-Stadion ist nun auch fertig: Das Westfalenstadion in Dortmund, die einzige reine Fußballarena.“
Am 2. April 1974 – 72 Tage vor Beginn der WM – erlebt das Westfalenstadion mit dem Freundschaftsspiel gegen Schalke 04 seine feierliche Einweihung. Auch wenn die überregionale Fachpresse daran offenbar kaum Interesse zeigt, ist dieses Datum einer der ganz großen Meilensteine in der Geschichte von Borussia Dortmund. Ein Wendepunkt für den damals wirtschaftlich klammen Klub, der in der Zweitklassigkeit darbt. „Das Westfalenstadion war für Borussia der Schlüssel zum Wiederaufstieg in die erste Bundesliga“, betont der damalige Schlussmann Horst Bertram (73), der bei der Premiere im Tor stand. Ohne dieses Stadion wäre der BVB nicht zum heute nach Bayern München und Benfica Lissabon drittgrößten Fußballverein der Welt mit seinen aktuell 154.000 Mitgliedern aufgestiegen. „Finanziell erwies sich das Westfalenstadion als wahre Goldgrube“, bilanziert dann auch der kicker schon drei Jahre nach der Eröffnung, als Borussia das erste Bundesliga-Jahr nach dem Wiederaufstieg absolviert hat. Einen weiteren Aspekt stellt Sportdirektor und Rekordspieler Michael Zorc (59) heraus: „Dass es gebaut wurde, aber auch dass es so ausgebaut wurde. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal, dass wir das größte Stadion in Deutschland haben. Aber es ist nichts ohne seine Zuschauer. Wenn die Stimmung nicht so wäre, wie sie bis zum Ausbruch der Pandemie war, dann hätte es auch nicht diese Anziehungskraft. Dieses Stadion ist in der Akquise von Spielern immer ein Thema. Jeder hat große Lust – und so war es bis vor zwei Jahren – alle 14 Tage vor 81.000 zu spielen.“
Ein anderer Meilenstein ist die Umbenennung in SIGNAL IDUNA PARK am 1. Dezember 2005. Das Engagement des Sponsors und Partners trägt entscheidend dazu bei, den seinerzeit massiv von der Insolvenz bedrohten BVB auf ein solides wirtschaftliches Fundament zu stellen.
Das Erste ist eine Nullnummer
„Burgsmüller mit Ladehemmung“, betitelt der kicker einen kurzen Spielbericht zum Regionalliga-Heimspiel gegen Bayer 05 Uerdingen am 7. April 1974. Hätte Manfred Burgsmüller getroffen, wäre Borussia Dortmund bei der Heim-Premiere im Westfalenstadion baden gegangen, denn der spätere BVB-Rekordtorjäger spielt damals noch für den Klub aus Krefeld. 0:0 endet jedenfalls das erste Pflichtspiel in der neuen Spielstätte, „weil beide Mannschaften mit einigen sehr guten Chancen aber auch gar nichts anzufangen wussten“, schreibt das Sportmagazin: „Beide Torhüter hatten insgesamt gesehen einen ruhigen Nachmittag. Wenn man so will, ist die Punkteteilung für den BVB eine Niederlage im doppelten Sinne, weil er es nicht verstanden hat, vor gut besuchtem Hause für sich zu werben.“
18.000 Zuschauer lassen sich bei sonnigem Frühlingswetter locken, genau doppelt so viele wie beim vorangegangenen und letzten Heimspiel in der Roten Erde zwei Wochen zuvor gegen Rot-Weiß Oberhausen. Nach dem Saison-Rekordbesuch am 8. Spieltag gegen Wattenscheid (25.000) hat sich das Interesse spürbar gelegt. Minuskulissen sind in der Saison 73/74 je 3500 Besucher bei den Heimspielen gegen SVA Gütersloh und Alemannia Aachen. Mit dem neuen Stadion kehren auch die Fans zum BVB zurück. „Es hat sich sehr gut angefühlt“, sagt der damals 23 Jahre junge Torwart Horst Bertram im Rückblick über Spiel Nummer eins: „Reines Fußballstadion, keine Laufbahn, die Zuschauer damit direkt am Spielfeldrand. Das war für mich, das war für uns alle ein ganz besonderes Erlebnis.“
Diese Elf läuft zum ersten Pflichtspiel von Borussia Dortmund im Westfalenstadion auf: Horst Bertram, Wolfgang Berg, Peter Czernotzky, Egwin Wolf, Mirko Votava, Helmut Schmidt, Burghard Segler, Willi Mumme, Helmut Nerlinger, Josef Votava, Hans-Werner Hartl. Trainer ist Dieter „Hoppy“ Kurrat.
100 Flaschen Bier fürs erste Tor
Am 28. April 1974 fällt das erste von bis heute 2173 BVB-Toren im neuen Stadion: Burghard Segler erzielt es in der 33. Minute des Heimspiels gegen Schwarz-Weiß Essen zum 1:1-Ausgleich. Segler trifft auch zum 4:2 (Endstand 4:3), ist aber nicht der erste Doppeltorschütze. Denn die Treffer zwei und drei gehen auf das Konto von Horst Bertl, der später mit dem HSV große Erfolge feiert. Seglers Premieren-Tor goutiert die Stifts-Brauerei mit 100 Flaschen Bier.
Der Rekordspieler
In 793 der bisher 999 BVB-Pflichtspiele steht Michael Zorc auf dem Rasen oder sitzt auf der Bank. Kein Mensch hat hier mehr Spiele absolviert oder in verantwortlicher Position begleitet, als der frühere Mittelfeldspieler und heutige Sportdirektor, der 1978 als Jugendspieler zum BVB gekommen ist. Am 16. Januar 1982 läuft er im Heimspiel gegen den damaligen Tabellenführer 1. FC Köln (1:0) erstmals auf. Das Spiel ist ihm heute noch präsent. Nichts täuscht in den Erinnerungen: „Kopfballvorlage von mir, und Bernd Klotz macht das Tor.“
Insgesamt trägt er in 274 Heimspielen das schwarzgelbe Trikot (22.080 Spielminuten) und erzielt 95 Tore, beim 4:2 gegen Bayer Uerdingen am 3. Mai 1988 sogar alle vier BVB-Treffer. Nur ein Borusse trifft häufiger in einem Bundesligaspiel: Manfred Burgsmüller fünfmal beim 11:1 gegen Bielefeld.
An eines seiner 95 Tore erinnert er sich besonders gerne, weil er – und das ist selten gewesen in diesen 274 Heimspielen – nur als Einwechselspieler zum Zuge kommt, als der FC Schalke 04 am 3. Mai 1997 im Westfalenstadion gastiert. Er hat Jens Lehmann und die Südtribüne vor sich, als er in der 84. Minute das Siegtor zum 1:0 erzielt. Der emotional größte Moment liegt da knapp zwei Jahre zurück: Am 17. Juni 1995 hält Michael Zorc als erster BVB-Kapitän nach Adi Preißler (1956 und 1957) sowie Willi Burgsmüller (1963) die Meisterschale hoch. Als „das Wahrwerden eines Kindheitstraumes“ empfindet er diesen Moment, „gemeinsam mit den Fans auf dem Rasen, ein riesiges Zusammengehörigkeitsgefühl“.
Zu den 793 Spielen als Profi und als Funktionär kommen auch noch einige als Fan. Im November 1974 ist Michael Zorc erstmals als Zuschauer mit dabei, als an einem Mittwochabend über 40.000 Besucher zum Pokalspiel gegen die SpVgg. Fürth (1:0) kommen.
Der Rekordtorschütze
„Hej, Manni, Manni! Manni, Manni, Manni, Manni Burgsmüller...“ Er ist der Liebling der Fans, das Idol einer ganzen Generation, obwohl er nie einen Titel gewinnt mit dem BVB. „Manni Burgsmüller war Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre das Gesicht von Borussia Dortmund“, würdigt Dr. Reinhard Rauball den im Mai 2019 im Alter von 69 Jahren gestorbenen Manfred Burgsmüller: „Er vereinte alle Facetten, über die ein Torjäger verfügen kann. Ein Schlitzohr auf dem Rasen, persönlich ein sehr angenehmer, witziger und geradliniger Typ, mit dem man sich einfach gerne umgab.“ Burgsmüller schießt in seinen 123 Spielen für den BVB im Westfalenstadion 104 Tore. Fünf davon beim Rekordsieg gegen Bielefeld. Auf Treffer Nummer sechs und damit den Bundesligarekord verzichtet er, als er die Ausführung des Elfmeters zum 11:1-Endstand in Spielminute 90 seinem Mitspieler Lothar Huber überlässt.
Der höchste Heimsieg
Nicht das 11:1 gegen Arminia Bielefeld (6.11.1982), nicht das 8:4 gegen Legia Warschau (22.11.2016) ist das torreichste von bisher 998 Spielen, sondern ein 14:1 im DFB-Pokal am 5. August 1978 gegen den BSV Schwenningen. Dabei spielt der BVB eine knappe Viertelstunde in Unterzahl, da Trainer Carl-Heinz Rühl bereits die beiden möglichen Spielerwechsel vorgenommen hat, bevor der zweifache Torschütze Joachim Siewek verletzt aufgeben muss. Da steht es 12:1. Sechs Treffer gehen auf das Konto von Wolfgang Vöge. Im Tor steht der 17 Jahre junge Eike Immel, der eine Woche später beim 1:0 gegen Bayern München seinen Bundesligaeinstand geben wird.
Die meisten Zuschauer
Nach Abschluss der dritten Ausbaustufe zu Beginn der Saison 2003/2004 finden für knapp zwei Jahre 83.000 Zuschauer Platz. Den dann folgenden Umbauarbeiten mit Blick auf die WM 2006 fallen dann knapp 2.000 Plätze zum Opfer. „Auuuuuusverkauft“ mit 83.000 Fans ist der SIGNAL IDUNA PARK insgesamt sechsmal. Erstmals am 30. Januar 2004 gegen Schalke 04, der bis heute letzten Heimniederlage an einem Freitagabend. Insgesamt sind in diesen beiden Spielzeiten nur die jeweils beiden Heimspiele gegen Schalke und Bayern voll besetzt, außerdem die Spiele gegen den VfB Stuttgart (6.3.2004) und Hansa Rostock (1.5.2004). Stoff genug für die 250.000-Euro-Frage bei Günther Jauch.
Das ausgefallene Heimspiel
Samstag, 23. April 1977. Der Tabellenneunte Borussia Dortmund empfängt den Zweiten Eintracht Braunschweig, der einen Punkt hinter Spitzenreiter Borussia Mönchengladbach rangiert. Der BVB hat nach 30 Spieltagen bereits 67 Tore erzielt, so viele, wie nie zuvor ein Aufsteiger, 40 davon im eigenen Stadion. Und er besitzt bei nur zwei Punkten Rückstand noch Chancen auf die UEFA-Pokal-Teilnahme. Doch im 16. Heimspiel der Saison 1976/77 bleibt er ohne eigenen Treffer. Die Angriffsbemühungen werden von einem Rasen, der diese Bezeichnung längst nicht mehr verdient, torpediert. Die beste Chance lässt Peter Geyer aus, der freistehend vor Keeper Bernd Franke vergibt. Doch noch größer ist die Möglichkeit für die Gäste in der 73. Spielminute. Den 44.855 zahlenden Zuschauern stockt der Atem, als im Mittelfeld Helmut Nerlinger das tückisch vor ihm aufsetzende Spielgerät über den Schädel rutscht und Danilo Popivoda plötzlich freie Bahn hat. Der Jugoslawe umspielt an der Sechzehnmeterlinie den aus seinem Kasten herausstürzenden Horst Bertram, sieht nur noch das leere Tor vor sich, holt aus zum Schuss – und rutscht samt Rasen weg, der keinen Halt mehr findet in den von Würmern angefressenen Wurzeln, landet auf der Nase, und Hans-Joachim Wagner kann den Ball noch klären. „Popivoda ist mit seinen Beinen im Sand versunken, und so kam er zu Fall“, lauten Bertrams Erinnerungen an jene kuriose Szene.
Anfang Mai rücken Bagger an, tragen den Rasen ab, der von Spezialisten aus England dann neu eingesät wird. Zum letzten „Heimspiel“ der Saison 1976/77 weicht Borussia Dortmund ins Gelsenkirchener Parkstadion aus. Die Mannschaft findet das gar nicht gut. Horst Bertram: „Wir fanden es sogar doof, ausgerechnet nach Schalke zu müssen. Das war Feindgebiet für uns. Warum hat man das Spiel nicht nach Bochum verlegt?“
Der damalige Hauptgeschäftsführer Walter Maahs chartert jedenfalls 20 Busse, um einen Teil der Fans dorthin zu chauffieren. 25.000 folgen ihrer Mannschaft, die nach einem 3:2-Auswärtssieg bei TeBe Berlin am 32. Spieltag nach wie vor noch eine Chance auf den UEFA-Cup hat. Burgsmüller sorgt für das frühe 1:0 einer Borussia, die aufs Gaspedal drückt, trotz einer Vielzahl von Möglichkeiten Treffer Nummer zwei verpasst, nach Heinz Simmets nicht unbedingt verdientem 1:1 (58.) in der Schlussphase mit Mann und Maus angreift und sich noch ein Kontertor (Roger van Gool, 89.) fängt.
Meilensteine und Bestmarken
Der BVB hat im Westfalenstadion/SIGNAL IDUNA PARK gegen 152 verschiedene Gegner gespielt, am häufigsten gegen Bayern München (54), Werder Bremen (47) und VfB Stuttgart (45). Es gab bisher 607 BVB-Siege. 15 Partien gingen in die Verlängerung, sechs ins Elfmeterschießen. Insgesamt gab es 41 verschiedene Ergebnisse. Am häufigsten trennte sich Borussia mit einem 1:1 vom Gegner (107-mal). Die häufigsten Resultate, die bejubelt wurden: 2:1 (93-mal) und 2:0 (91-mal). In jedem knapp neunten Spiel blieb Schwarzgelb ohne eigenen Torerfolg (114 Spiele). Zum ersten Mal ausverkauft war das Westfalenstadion am 23. Juni 1976 in Spiel Nummer 45: 54.000 Fans feierten nach dem 3:2 gegen den 1. FC Nürnberg die Rückkehr in die Erstklassigkeit. Das 1000. Tor erzielte Andreas Möller (beim 1:1 gegen Kaiserslautern, 1988), das 1000. BVB-Tor gelang Steffen Freund beim 6:0 gegen Frankfurt im Jahr 1996. Die bisher meisten Heimspiele in einer Saison gab es 2015/16 mit 26 Partien.
Autoren: Boris Rupert, Danny Fritz
1000 Heimspiele im schönsten Stadion der Welt wollen wir in dieser Woche feiern. Höhepunkt ist eine Liveshow bei BVB-TV am Donnerstagnachmittag mit Rückblicken auf besondere Spiele und Gästen, die bei vielen der bislang 999 Spiele dabei waren.